Gestern waren wir auf unserem kleinen Weihnachtsmarkt im Märkischen Viertel.
Andere Leute ziehen sich eine Jacke an und gehen los. Wenn man einen Liebsten im Rollstuhl hat, der den Großteil des Tages auf eine Beatmungsmaschine angewiesen ist, sieht das etwas anders aus. Die Maschine lassen wir zu Hause, aber:
Wir müssen 14 Tage vorher den Telebus buchen. Das heißt, wir hoffen einfach, dass zwei Wochen später das Wetter gut ist. Denn bei Temperaturen unter sechs Grad spinnt der Rollstuhl. Regen verträgt die Elektronik auch nur bedingt, außerdem kann ich Peter, wenn er nass wird, nicht einfach umziehen. Die Zeit können wir auch nicht einfach wählen, die bestimmt der Bus mit.
Am Tag vor der Fahrt muss der Akku des Rollis aufgeladen werden, desgleichen der von der mobilen Absaugpumpe für die Lunge. Peter muss sich ausruhen, gleichzeitig aber seine Arbeit schaffen.
Einpacken muss ich außerdem Zubehör wie sterile Handschuhe und Absaugkatheter für die Lunge, Ersatzröhrchen für die Kanüle, die Peter seit dem Luftröhrenschnitt im Hals trägt, Sprechaufsätze und diverses andere.
Vor der Fahrt müssen wir durch Inhalieren etc. die Lunge richtig frei kriegen.
Jacke anziehen und Gurt um ist auch nicht so leicht für einen Muskelkranken, der nicht aufstehen und auch im Sitzen kaum Gleichgewicht halten kann.
Dann müssen wir die Telebusfahrer bestechen, damit sie langsam fahren, denn jedes Schlagloch – und Berlins Straßen bestehen fast ausschließlich aus Schlaglöchern – ist eine Qual und Gefahr für einen Muskelkranken, der keine Erschütterung durch Muskelspannung ausgleichen kann.
Auf dem Weihnachtsmarkt ist soviel Publikumsverkehr, dass ich nicht immer neben Peter gehen kann, muß ich aber, weil er allein nicht mehr die Kraft hat, den Rollihebel zu bedienen, ich muß seinen Arm ein wenig unterstützen.
Da er den Kopf nicht allein heben kann, müssen wir anhalten und den Rollisitz und Rücken elktrisch nach hinten kippen, wenn er etwas sehen will, z.B. die Weihnachtslichter in den Bäumen.
Das hat soweit alles ganz gut geklappt gestern, war aber sehr anstrengend für ihn, zumal der Bus auf dem Rückweg eine halbe Stunde zu spät kam und Peter langsam die Luft ausging.
Aber: Wir haben die Weihnachtslichter gesehen, wir haben einen sehr leckeren Crépe mit Zucker und Zimt gegessen und einen sehr leckeren alkoholfreien Cocktail im Palmencafé getrunken, wo die Stämme der Palmen aller mit Lichterketten umwickelt sind.
Zuhause wartete eine warme trockene Stube auf uns, und wir können uns glücklich schätzen. Dennoch dachte ich gestern: eigentlich schade, dass all die Menschen um uns herum auf dem Weihnachtsmarkt sich nicht bewußt sind, was für ein Riesenglück sie haben, dass sie laufen können und jeder Atemzug eine Selbstverständlichkeit ist.
Übrigens, meine Geschichte „Cafékalender“ in dem Buch „Der Weihnachtswind“ spielt genau in diesem Café. Hier eine Leseprobe:
„Auf die engelsgleiche Verkäuferin mit der glitzernden Weihnachtszipfelmütze allerdings schien die Stimmung ihrer Gäste abgefärbt zu haben. Vielleicht war sie auch nur erschöpft. Unter dem weißen Plüschbesatz der Mütze passte der mürrische Ausdruck, mit dem sie ihm seinen Espresso servierte, nicht im Mindesten zu ihrem Gesicht. Das Namensschild auf ihrer Bluse erzählte, dass sie Christina hieß. Immerhin, dachte Paul, passt doch.
„Bringen Sie mir bitte die Rechnung“, bat er und schenkte ihr sein bestes Lächeln. „Und schreiben Sie bitte den Kaffee und die Torte mit darauf, die die weißhaarige Frau an dem Tisch neben der Kuchentheke hatte. Aber sagen Sie ihr keinesfalls, wer das bezahlt hat.“
„Wieso?“ In Christinas Augen wachte zum ersten Mal, seit er sie beobachtete, Interesse an etwas auf. „Kennen Sie sie?“
„Nein. Es soll nur eine kleine Überraschung sein. Ich finde, sie kann etwas Aufheiterung gebrauchen.“
Christina musterte die Frau, als hätte die sich eben erst hingesetzt. „Kann schon sein.“
„Ach, und servieren Sie ihr bitte auch noch so einen wunderbaren „Bali Wintertraum Spezial“, sagte Paul und wies auf sein leeres Glas.
„Auch auf Ihre Rechnung?“
„Ja, wenn Sie so lieb wären.“
Verwundert, aber bereitwillig huschte Christina davon und kam kurz darauf mit der Rechnung und einem Karamellbonbon wieder.
„Die wird sich aber ganz schön wundern!“ sagte sie noch, als sie das Trinkgeld einsteckte.
„Ich hoffe, sie wird sich auch freuen“, sagte Paul und schlüpfte in seinen Mantel. Er seinerseits freute sich auf seine Frau und sein Sofa.
„Sie möchten schon gehen? Wollen Sie denn nicht…“
„Was?“
Christina wurde rot. „Ich dachte, Sie wollen noch sehen, ob ich ihr den Drink wirklich bringe und nicht noch mal abkassiere. Ich meine, das wissen Sie doch sonst gar nicht.“
„Sie heißen Christina und tragen eine Weihnachtsmannmütze“, sagte Paul. „Ich vertraue Ihnen.“ Er grinste sie an und ging, ohne sich umzudrehen.
„Donnerwetter“, sagte Christina zu dem leeren Kuchenteller. Dann ging sie den Cocktail mixen.
Paul war zwei Tage später wieder im Einkaufszentrum, da er ein bestelltes Medikament abholen musste. Ohne dass er es wollte, blieb er erneut im Café Bali hängen. Warum sollte er sich nicht so einen guten Espresso gönnen oder einen Cappuccino? Er brauchte doch kein schlechtes Gewissen haben. Seine Frau war noch nicht zuhause, und er musste sich daran gewöhnen, Zeit zu haben.
Ehe er sich einen Stuhl zurechtgerückt hatte, kam schon Christina auf ihn zu geeilt. „Stellen Sie sich vor“, berichtete sie atemlos, „sie hat geweint!“
„Geweint?“ fragte er erschrocken.
„Ja, die Frau für die Sie bezahlt haben. Vor Freude. Sie sagte, sie kann sich nicht erinnern, wann ihr das letzte Mal jemand was geschenkt hat. Und dann auch noch ein völlig Fremder. Sie sah plötzlich ganz anders aus. Voller Lachfalten!“ Christina gestikulierte um ihr junges Gesicht, als könne sie die Falten, die sie so beeindruckt hatten, darauf legen. „Und den Cocktail hat sie ganz ausgetrunken.“
Paul sagte nicht, dass er auch Christina kaum wiedererkannte, so lebendig war sie jetzt. „Das ist schön. Bringen Sie mir bitte einen Cappuccino?“
„Klar. Und ich soll Sie grüßen. Von der Frau. Sie sagte, sie wird sowas auch mal machen. Übrigens, an dem Tag hat mir der Job auch endlich mal wieder Spaß gemacht.“
Paul sah gedankenverloren an den Palmen hinauf, an welchen sich die kleinen Lichter in den Himmel schraubten. Statt Kokosnüssen hingen große goldene Schneeflocken in den Wipfeln, und irgendwo darüber blinzelten die echten Sterne zwischen den Blättern durch das Glasdach.
Er hatte nicht gedacht, dass seine kleine Geste, mit der er nur ein winziges Zeichen gegen die Einsamkeit mancher hatte setzen wollen, einen solchen Dominoeffekt auslösen würde. Es verblüffte ihn. Ja, es erschreckte ihn sogar ein wenig.
„Können wir das nicht noch mal machen?“ fragte Christina verschwörerisch leise, als sie ihm den Cappuccino hinstellte. „Da sitzt nämlich so ein junger Mann. Neben dem Plastiknikolaus. Er sieht genauso aus wie die Frau von neulich…“
Ich frage mich immer wieder, warum der Telebus so grausig desorganisiert ist. Will ein Behinderter zu einem bestimmten Termin (Arzt, Konzert, Geburtstagsfeier etc.), kann er nur hoffen, daß der Telebus nicht eine Stunde zu früh oder zu spät kommt – und das die gebuchte Rückfahrt sich ebenfalls nicht unsinnig verschiebt. Spontan von A nach B wollen geht gar nicht, und wenn man Pech hat, nölt die Besatzung auch noch den ganzen Weg lang über Ausländer und Arbeitslose (alles schon dagewesen).
Ich bin überzeugt, daß mit sehr wenig Aufwand ein reibungsloser Ablauf möglich wäre – aber dies bißchen Aufwand müßte eben jemand machen.
Wohl wahr, aber immerhin sind die Fahrer grauslich unterbezahlt und haben daher Grund zum Nölen – und wir können uns ja glücklich schätzen, dass wir hier in Berlin den Telebus überhaupt haben.