Berliner Notiz 1989

Mauer 502

Im Januar 1990 gab es einen Aufruf im Radio – und zwar nicht nur im Westen sondern auch in der noch existierenden DDR. Es wurden Texte zum Mauerfall gesucht, persönliche Gedanken und Erlebnisse aller Berliner. Rund 11000 Einsendungen kamen zusammen (70 Prozent davon aus dem Ostteil!). 146 davon wurden im Sommer 1990 in einer Anthologie des Bertelsmann Verlages mit dem Titel „Denk ich an Deutschland“ abgedruckt. Meiner war dabei, es war eine meiner allerersten Veröffentlichungen. Aus gegebenem Anlaß habe ich sie noch einmal ans Licht geholt. Ich war versucht, den Text zu editieren, da ich ihn heute anders schreiben würde. Aber dann habe ich die Originalfassung doch genau so belassen, wie ich sie damals, mit fünfundzwanzig zu Papier gebracht habe:

Berliner Notiz, November 1989
© Patricia Koelle

Es war jener Herbst, in dem die Narzissen zum zweiten Mal im gleichen Jahr blühten und es so sanft und lange warm war, dass auch andere Knospen, von denen das niemand erwartet hätte, noch aufblühten. Die einen werteten das als Folge des Ozonlochs, die anderen hatten das Gefühl, es sei ein wundersames und versöhnliches Zeichen des Unglaublichen, das in diesen Tagen geschah. Manche dachten beides auf einmal, und es erschien ihnen nicht widersprüchlich.
Es war der Abend, an dem die Fischstäbchen anbrannten und ich verwirrt mit dem Küchenmesser in der Hand zur Tür ging und den Nachbarn erschreckte, weil ich mitten im Tomaten schneiden begriffen hatte, dass auf der Mauer Menschen saßen und nichts mehr so umzingelnd eng war wie gestern noch. Der Abend, an dem Großvater drei Äpfel hintereinander aß, ohne es zu merken, und erst eine Stunde nach zehn ins Bett ging, was seit der ersten Mondlandung nicht mehr vorgekommen war. Der Abend, an dem man nicht mehr so unbekümmert zwischen den Fernsehkanälen hin und her schaltete, aus Angst, eine wichtige Sekunde zu versäumen. Der Abend, an dem so etwas wie der alte Kindertraum von einem Zwilling erfüllt wurde: jemanden zu haben, der einem ähnlich, aber doch genügend anders ist, um Freund und Gesprächspartner zu sein. Plötzlich gab es noch ein zweites Deutschland.
Es waren die Tage, an denen es keinen einzigen freien Parkplatz mehr gab, dafür viele hinzuerfundene, und an denen statt Strafzetteln frische Bananen hinter die Scheibenwischer geklemmt wurden. Die Tage, an denen Menschen jeden Alters an der Ampel standen und Orangen aus der Tüte aßen: Früchte, die plötzlich neu und erstaunlich auch für diejenigen aussahen und rochen, die sie schon lange kaufen konnten und eigentlich achtlos vorbeifuhren, um dann doch zu halten und zu winken.
Es waren die Tage, an welchen niemand schimpfte über die ungläubigen Menschentrauben, die jeden Weg verstopften und die Straßen noch dazu, obwohl man diese Menschen mit ihren Anfragen und Wünschen nicht gewöhnt war, weil so lange und so massiv getrennt davon. Die Tage, an denen in den Staus an der Grenze statt ärgerlichem Anhupen überraschte Freundschaften entstanden. Die Tage, in denen die Taxifahrer Überstunden machten und ihr eigenes Lächeln nicht fassen konnten, dass sich durch keine Müdigkeit wegwischen ließ. Sie erzählten von verheulten Mädchen, die sie am Checkpoint Charlie aufgelesen hatten und denen sie versprachen, sie an dieses oder jenes nie gekannte Ende der Stadt zu fahren: Wo Mama wohnt, sie zahlt ganz bestimmt! – und wenn sie es nicht tat, störte es auch niemanden.
Da war auch die verlegene Zärtlichkeit, mit der die gleichen Taxifahrer langsam fuhren und sagten : Diese stinkenden Wartburgs werden wir jetzt wohl öfter vor uns haben.
Von diesen Taxifahrern unterschieden sich so wenige von uns an diesem Tag. Einer in der U-Bahn, der kaum atmen konnte vor fassungslosem Gedränge, flüsterte staunend: sieh doch nur, dieses bestimmte ungläubig glückliche Lächeln, das die Menschen auf den Gesichtern haben, alle!
Statt dem Lächeln hatte der Fernsehmoderator einen Bruch in der Stimme, dessen er sich nicht schämte: Er hatte den Bau der Mauer miterlebt und dann alles, was zwischen jenem Tag und dem heutigen in und um den Grenzstreifen so unverrückbar eingeklemmt war an Angst und Sehnsucht. All die Geschichten, die er verloren hatte unter seiner Neutralität, die nötig war für seinen Alltag! Sein Warten hatte graue Haare und achtundzwanzig Jahre gedauert, und all das, was er unter professioneller Sachlichkeit zu verstecken gelernt hatte, tauchte angesichts der neuen Betonlücken und des allgemeinen Glücks so völlig verletzlich wieder auf, und er war tief erstaunt und gründlich froh, das wiederzusehen,
Der Himmel über Berlin war stahlblau und warf überraschendes Licht in die Gesichter. Man sah das Erstaunen in ihnen dadurch um so deutlicher. Dass das Wetter so himmelblaugolden strahlte erschien auch den Nüchternsten im Geheimen als Fingerzeig und Gottesgeschenk: Man konnte über soviel scheinbar Unerhebliches ergriffen sein dieser Tage, weil soviel neu möglich erschien, und das allzu genaue Nachfragen ließ man in stillschweigender Übereinkunft sein. Es waren genug der Tatsachen, die unanzweifelbar und sehr lebendig da und zu feiern waren. Dazu noch an allen Ecken die Leierkastenmusik in den Hintergrund der Stimmung drapiert: mit ostwestgemeinsam altvertrauten Tönen und ebenso stotternd-ungläubig und schnell-euphorisch wie die Gedanken der dicht Vorüberflanierenden, die das langersehnte Neuentdecken zeitweilig über dem verträumten Nachlauschen vergaßen. Der Drehrythmus der abgenutzten walzen war ebenso ungewohnt und sympathisch durcheinandergeraten wie die Grammatik des Nachrichtensprechers, dessen Ringe unter den Augen von der besten Westschminke nicht übertönt werden konnten. Mit der gleichen Bereitwilligkeit und dem angestauten Aufatmen, mit denen er seinen Schlaf geopfert hatte, half man sich, Stereoanlagen in Trabikofferräumen zu verstauen, sich an Hindernissen vorbeizuwinken oder einen verknickten Stadtplan wieder und wieder zu erklären.
Es waren die Tage, in denen der sonst sehr schweigsame Klempner eine Wasserleitung im verkehrten Winkel einbaute, so dass sie ins Nichts führte, weil er mit seinen Erlebnissen nicht zu Rande kam: dass im Supermarkt eine junge Frau angesichts des Warenangebots still in die Ecke gegangen war und geweint hatte, und dass sein unbekannter Neffe vor seiner Haustür aufgetaucht war, mitten in der Nacht – dieser Nacht, die in Berlin keine Nacht war, sondern eher eine Morgendämmerung.
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