
Vorgestern war ich auf einer Hochzeit, mitten im Wald. Standesamt, nicht Kirche. Die Trauung fand draußen statt. Das Paar war spürbar glücklich; ich freue mich riesig für sie. Doch die Rosen im Bogen über ihnen waren aus Plastik. Der Wind trug alle Worte davon, so dass sie das Geheimnis des Brautpaars blieben – was ja in Ordnung ist. Mir fehlte die Feierlichkeit der Kirche und Musik, die nicht von einem ausgeleierten Band kam; ich fühlte mich seltsam fremd und fern, wie immer in einer Menschenmenge.
Gestern war nach langer Zeit jemand zu Besuch, mit dem ich seit 28 Jahren tief befreundet und noch länger seelenverwandt bin, obwohl er mir fast ein Vierteljahrhundert voraus hat. Nun hat er einen schweren Sturz von der Leiter hinter sich, gefolgt von sechs gebrochenen Rippen und einer dauerhaft verletzten Lunge; in seiner Niere schläft ein Tumor, von dem man nicht weiß, wie lange noch. Ich ging ihm entgegen, erkannte ihn von weitem und doch nicht. Früher stürmte er alle Wege entlang, war sich stets selbst einen Schritt voraus, brannte an beiden Enden, schlief kaum aus Angst, Leben zu versäumen. Nun geht er langsam, ein wenig unregelmäßig. Damals konnte ich immerhin zwei Zentimeter zu ihm aufsehen, nun merke ich: es ist jetzt umgekehrt. Das tut weh. Zerbrechlich ist er, vor dem Hintergrund der gelben Blätter, die auch die Bäume zarter aussehen lassen als sie sind. Aber sein Lachen, so viel größer als er, rückt für mich noch immer die Welt gerade, wie damals, wie seitdem: unerschütterlich, auch wenn ein neuer Unterton mitschwingt.
Er erzählt von alten Kollegen, die gerade verstorben sind: Professoren, bei denen ich Vorlesungen gehört habe, ich erinnere mich. Nicht an die Vorlesungen, aber an Gesichter, Stimmen, Gesten. Lebendig, auch jetzt noch.
Auch Freunde sind ihm verlorengegangen, alte Kameraden. „Die Einschläge kommen näher, schneller“, sagt er. Fühlt er sich unter Beschuß? Ich habe organisatorisch immer die Kohlen aus dem Feuer geholt für ihn, nun kann ich ihn nicht mehr beschützen, nur mit ihm lachen über uns selbst, den alten Zauber heraufbeschwören für einen Herbstnachmittag.

Heute war ich auf dem Friedhof, meine Schwiegermutter hätte Geburtstag gehabt und ich bringe ihr Blumen. Sie hat in jeder Krise zu mir gestanden als wir uns noch kaum kannten, mehr als meine eigene Familie, und doch war ich ihr nie so nahe wie sie es sich gewünscht hätte. Daneben liegt mein Schwiegervater, den ich nicht mehr kennenlernen durfte und der an der Krankheit starb, die er unwissentlich an meinen Mann vererbte. Daneben der andere Sohn, mein Schattenbruder, der keine Vierzig wurde und den ich auch nicht kennenlernte und der dennoch immer unsichtbar gegenwärtig ist.
Ich zünde die Kerze an, pflanze die Astern und die Erika in die herbstduftende Erde. Die Gräber drumherum sind fast alle verfallen, Löwenzahn wächst dort und Vogelmiere, nur die Namen erzählen Geschichten, dort, wo die Steine noch nicht verschwunden sind. Manche Namen sind erst ein paar Jahre alt und doch sehen die Gräber so aus

Auf anderen wohnen ausgelassen Blüten obwohl die Namen längst unauffindbar schweigen.

Den Bäumen sieht man an, dass sie aus den Schicksalen von Generationen wachsen.


Ich mag Friedhöfe. Als Jugendliche folgte ich den langen Schritten meines Vaters über Friedhöfe im ganzen Land, er betrieb Ahnenforschung und wir waren auf der Suche nach bestimmten Familiennamen, überall andere. Wir fanden sie oft, manchmal auch nicht, dann galt es alte, nach Moder riechende Kirchenbücher zu durchstöbern. Wir fanden so viele Geschichten, von denen es gar nicht mehr wichtig war, ob sie zu uns gehörten. Sie gehörten der Menschheit, von der wir ein ehrfürchtiger winziger Teil sein durften, sie gehörten alle unseren Vorfahren, ob blutsverwandt oder nicht.
Es gab auch Zeiten, da beneidete ich die, die da so friedlich unter den Steinen träumen durften und zu Blumen werden, in den Schatten alter, aufrechter Kirchen.
Heute fühle ich mich hier lebendiger als auf der Hochzeit, trödle herum während der Herbst sich mit jedem treibenden Blatt ein wenig tiefer senkt. Wie kommt es, dass ich mich so oft den Toten näher fühler als den Lebenden? „Mit den Toten führen wir die tiefsten Gespräche, weil sie nicht mehr widersprechen können“, sagte ein Kollege mir. Ja, vielleicht führe ich mit den Toten die tiefsten, wortlosen Gespräche, doch sie antworten mir, indem sie auf ihre Weise gültig gegenwärtig sind, nahe und immer, zeitlos. Sie prägen meinen Weg.

Im Gießbottich sehe ich helle Blätter auf der Oberfläche treiben, so hell wie die, die schon lange auf dem Grund liegen und durch das dunkle, aber klare Wasser deutlich sichtbar sind. Ein Echo von Blau schaukelt dazwischen in dem hölzernen Rund, ein zweiter, tieferer Himmel. Es freut mich, diesem passenden Bild für meine Gedanken von eben zu begegnen. Die Lebenden treiben auf der Oberfläche, doch die Toten, in der Tiefe ruhend, haben nichts von ihrem Leuchten und ihrer Wirklichkeit verloren. Es ist nur nicht mehr ihre Zeit, aber das heißt nicht, das ihre Zeit an Gültigkeit verloren hat. Mein Spiegelbild schwebt irgendwo dazwischen und sieht beiden ins Auge, bis ich die Gießkanne in das Wasser tauche. Sie zieht die lebendigen Blätter von der Oberfläche in einen Strudel; die auf dem Grund bleiben in der Stille liegen.

Auf dem Weg zum Tor finde ich diese steinernen Raben, deren Schnäbeln ein Jahrhundert die Schärfe genommen hat wie auch dem Stein, den sie betrachten, die Buchstaben. Und doch wirken sie hellwach, wie gerade erst gelandet – in einer Zeit, die langsamer läuft als die Menschen. Sie scheinen in den braunen Blättern nach Käfern zu stöbern. Sie gefallen mir, besser als alle anderen Gedenksteine auf dem Friedhof.

Auch einen Engel treffe ich, der den Großstadtschmutz desselben Jahrhunderts trägt; ein sehr nachdenklicher Engel, der sicher noch nicht herausgefunden hat, warum er Zeuge zweier Kriege, einer Teilung und einer Diktatur werden mußte, von vielem anderen abgesehen; heute aber sieht er Kinder spielen, die sich Eicheln zuwerfen und dabei vor Lachen das Gleichgewicht verlieren. Mir ist, als habe er – bzw. sie – einen Moment geschmunzelt. Darunter steckt ein Schild: „Denkmal sucht Pate“. Ein Schutzengel, der einen Paten sucht – wer mag sich dieser Aufgabe gewachsen fühlen?

Auf der Heimfahrt spüre ich ohne Zusammenhang ein sehr lebendiges Verlangen nach der kleinen Packung Johannisbeereis, das der Sommer in meinem Gefrierfach übrig gelassen hat. Mein Gast von gestern hätte nach Pistazieneis verlangt. Ich erinnere mich an einen Sommertag vor fünfundzwanzig Jahren, als er um einen Kuss wettete, dem Eismann an der Gedächtniskirche noch eines abschwatzen zu können, obwohl der längst eingepackt hatte. Natürlich gewann er. Und ich bin zuversichtlich, dass er jetzt dem Schicksal noch einiges abschwatzen kann. Seine ausholenden Gesten, mit denen er mir einst wie jetzt vieles so umfassend nahebrachte, mit denen er die Welt aus den Angeln heben und bunter, greifbarer, größer wieder aufhängen konnte, sind leiser geworden, doch an Überzeugungskraft haben sie nicht verloren.
Gestern, auf dem Bahnhof beim Abschied, spiegelten sie sich in einer Pfütze, auf der helle Blätter lagen.
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