Silberblau steigt vor dem Küchenfenster der Morgen über den Horizont. Der Himmel ist kristallklar und noch höher als sonst. Gänse ziehen Richtung Süden, eine pfeilförmig geordnete Gruppe nach der anderen. Sie erzählen von kommender Kälte – genau wie der Wetterbericht. Darum bringe ich nachmittags die Kübelpflanzen in den Schuppen. Bis jetzt haben sie alle noch geblüht, die Engelstrompete und der Hibiskus und die Malve und ungefähr vierzehn andere. Die Tomaten und Erdbeeren trugen noch eine letzte Frucht und die Zitronen und Mandarinen sind alle reif geworden, in einem kleinen Garten in Berlin im November.
Inzwischen aber ist der Himmel tief und grau, ein frischer Wind jagt dichte Wolken und ein paar Möwen vor sich her. Die Möwen sind ein lieber Gruß von der See, auch wenn diese nur vom Seggeluchbecken im Märkischen Viertel stammen.

Der Nachbar steht im Garten und jammert. „Was für ein olles Wetter“, beschwert er sich, „und es ist zu kalt und die Tage sind zu kurz.“ Zu kurz wofür denn? Sie haben immer noch vierundzwanzig Stunden, die man mit Leben füllen kann. Und er geht auch im Sommer nicht zwölf Stunden spazieren. Auch die Verwandten jammern über die Novemberstimmung und den grauen Himmel. Sie wären lieber in Thailand, in Afrika, auf Gran Canaria. Als gäbe es den Himmel nur dort, als wäre unserer verschwunden, nur weil er nicht mehr blau ist! Das Schöne am Himmel ist, dass man ihn überall und immer trifft – und siehe da, nicht nur im Rest der Welt, sondern auch genau hier. Ich streite mich spielerisch mit dem Wind um die gefallenen Blätter, die goldenen Himmelskonfetti, die ich in die Laubsäcke zu stopfen versuche, und bin glücklich. Ich mag auch den grauen Himmel, ich lese doch auch nicht immer nur dasselbe Buch. Und ich wende mich auch von keinem Freund ab, nur weil er mal finster dreinschaut!

Der graue Himmel erzählt von Sturm, der frische, saubere Luft in die Stadt und neue Gedanken ins Hirn bläst, von Schneespaziergängen und gemütlichen Winterabenden voller Kerzenlicht und Zweisamkeit. Dass wir noch zusammen sein können, Peter und ich, und all das erleben dürfen – was brauchen wir dafür blauen Himmel? Wir wollen jede Sorte Himmel in unserem Leben, keinen davon versäumen! Der Himmel ist gut so, wie er ist. Was müssen wir in andere Länder, wenn doch dieses Stückchen Erde hier jeden Tag anders aussieht, riecht, schmeckt, spricht? Trotz Peters Rollstuhl und Beatmungsgerät, trotz ungewisser Zukunft sind wir, scheint mir, gesünder als diejenigen, die ständig unter Fernweh leiden. Jeder Tag ist vom Schicksal nur geliehen – es kommt uns nicht in die Tüte, einen davon ungenutzt zurückzugeben, nur weil der Himmel grau ist.
Die dahinjagenden schwarzgrauen Wolken erzählen mir auch von lange verstorbenen Freunden. Da war jene alte Dame, die aus Russland stammte und mir mit fast hundert Jahren erzählte, wie sie bei solchem Himmel als langhaariges Kind auf der zugefrorenen Newa Pferdeschlittenfahrten genoss. Wenn sie sprach, sah man die schweren Wolken mit den Pferden um die Wette jagen, hörte man die Schlittenglocken, das Stöhnen des Eises unter den Hufen und das Lachen eines Mädchens aus einer anderen Zeit. Sie schrieb immer noch wunderbare Gedichte darüber und hatte Augen und ein Lächeln, dass ich nie vergessen werde, weil es bewies, dass man auch mit hundert nicht alt sein muss.
Ich denke auch an einen toten Freund, der mein Leben geprägt hat und der mich just an einem solch grauen Novembertag anrief und fand, es wäre genau der richtige Tag um eine Dampferfahrt und ein Picknick zu machen, was sich als wahr erwies. Ihm habe ich in meiner Geschichte „Der Engel am Ende des Himmels“ (in: “Weihnachtsgeschichten“) ein Denkmal gesetzt, eine Geschichte, die es ohne Winterhimmel nie gegeben hätte. Auch viele andere Geschichten der Autoren in diesem Buch kommen nicht ohne Winterwetter aus. Und in „Weihnachtsgeschichten Band 3“ gibt es sogar eine Geschichte, die erklärt, warum Regen an Weihnachten viel wunderbarer sein kann als Schnee. Diese Geschichten können aber manch dunklen Vorweihnachtstag heller machen für diejenigen, die sich mit einem grauen Himmel beim besten Willen nicht anfreunden können. Wer die Tage zu kurz findet, kann sich über lange Abende freuen – zum Beispiel zum Lesen.
Mein Garten sieht nun kahler aus ohne die Zitronenbäume und Blätterhaufen, aber dafür hat der Himmel mehr Platz: aus dem Fenster ist freiere Sicht. Davor steht eine Solarlaterne, in deren Licht bald die Schneeflocken tanzen werden.
Außerdem blühen ungeniert der Winterjasmin und der duftende Schneeball, und auch die Zaubernuss wird sich bald öffnen. Wenn die Vorübergehenden den Winterjasmin blühen sehen, halten sie ihn für eine Forsythie und denken, ich hätte irgendwie gemogelt. Die meisten halten es einfach nicht für möglich, dass es hierzulande Blumen gibt, die auch bei Frost und Schnee völlig unbeirrt Blüten tragen. Ja, das Gelb des Winterjasmins läuft vor dem grauen Himmel erst zu richtig großer Form auf. Warum diese Pflanzen zu dieser Zeit blühen, habe ich in meiner Geschichte „Der heilige Strohsack“ (in „Der Weihnachtswind“) erzählt. Schuld ist nämlich ein ganz normaler, armer kleiner Junge der zur Zeit Christi Geburt hoch oben im Norden lebte…

Jetzt regnet es, und das freut mich, denn der Boden ist trocken, die Erde durstig, und wenn der Frost kommt, ist das nicht gut für sie Wurzeln. Außerdem füllt der Regen den Teich, so dass die Fische sicher sind und auch eine Eisschicht überleben können. Ich hätte das sonst mit dem Schlauch machen müssen, aber der Himmel ist so zuvorkommend und tut es von selbst. Jetzt ein schöner Regen, und wenn der Himmel dann sein Versprechen hält und es in ein paar Tagen schneit, dann gehen wir spazieren und Peter malt mit den Rollstuhlrädern fröhliche Kringelspuren, die verkünden: Der Himmel ist gut so, wie er ist.
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