Sommergedicht 9 – Sommerwege

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Sommerwege
© Patricia Koelle

Himmelhoch uns Früchte reifen
Tage sich in Reichtum runden
Kostbar sind die warmen Stunden
wenn uns helle Träume streifen

Wind spielt lau in Gartenecken
streut Rosenblüten in die Zeit
Jedes Frösteln ist noch weit
Gründuftend stehen die Hecken

Gewissheit schenkt der Ernte Stand
Staub liegt auf vertrauten Wegen
beruhigend wie ein alter Segen
die Hitze spiegelt Heimatland

Gedanken, die in Ferne weisen
Neugier, immer frisch gesponnen
Die Erde ist nun wohlgesonnen
lässt weit uns ihre Haut bereisen

Wir schauen auf zu Wolkenlaunen
erobern eifrig sieben Hügel
leihen uns der Möwen Flügel
Du und ich, wir atmen Staunen

lassen uns von Sehnsucht leiten
schreiben uns ins Leben ganz
durch den langen tiefen Tanz
in des Sommers Zärtlichkeiten

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Ferne Heimkehr – Eine Geschichte von Liebe und einer Reise

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Ferne Heimkehr
© Patricia Koelle

Welcher mir am Ende wohlgesonnene Teufel ihn an diesem Abend ritt, werde ich wohl nie herausfinden. Seit fast zwanzig Jahren hatte ich Clemens kaum gesehen. Dann traf ich ihn auf einer Vernissage in Bennos Café. Ich war wie immer mit Kellnern beschäftigt, schmierte nebenbei Brötchen und erklärte zwischendurch den Gästen die Bilder von dem Künstler, der zwar gerade „in“ war, aber seine Werke selbst dem wißbegierigen Fachpublikum nicht verständlich machen konnte. Es war eigentlich nicht erstaunlich, dass Clemens hier auftauchte, er interessierte sich immer für Kunst. Verblüffend nur die Vertrautheit, die sofort zwischen uns aufblitzte, obwohl da nie was war außer dieser seltsamen Seelenverwandtschaft, einer ungewöhnlichen Freundschaft. Clemens war schließlich mein Astronomieprofessor gewesen. Ich kannte seine Frau, sie war reizend zu mir. Und darum war da außer einer gelegentlichen ziemlich kameradschaftlichen und schmetterlingsleichten Berührung bei der Arbeit eben nichts.
Clemens und ich hatten fast jeden Tag zusammen gearbeitet, hatten uns über Sternkarten gebeugt und durch Teleskope gespäht. Wir kannten unzählige Sterne beim Namen und irgendwie gehörten sie alle uns.
Damals war Astronomie noch romantischer und voller Ruhe, war Angeln im Weltall. Heute verbringt man kaum noch Nächte am Teleskop. Die Messungen erfolgen automatisch und ferngesteuert, man verlässt sich mehr auf elektromagnetische Signale als auf Beobachtungen, und ein Großteil der Daten kommt ohnehin aus dem Internet. Deshalb habe ich nach meinem Abschluss auch nicht mehr viel auf dem Gebiet gemacht. Mit Daten herumzurechnen ist nicht mein Ding, ich möchte den Sternen lauschen, einen stillen Dialog mit ihnen führen. Dazu brauche ich keine Statistiken.
Seit ich mit meinem Studium fertig war, waren Clemens und ich uns nur noch alle paar Jahre über den Weg gelaufen, auf Veranstaltungen wie dieser und gelegentlich auf der Sternwarte, ohne dass wir mehr als einige Worte gewechselt hatten. Ich lernte ohne ihn zu leben und zu lieben. Natürlich, seine Stirnfalten brachten mich immer noch durcheinander wenn ich ihn sah, seine sprunghafte, leichte Art, sich auf seiner Schuhgröße achtunddreißig zu bewegen und sich mit völliger Konzentration auf ein ihm neues Thema zu stürzen wie ein Fisch auf den Köder. Aber ganz bestimmt hatte ich nicht ahnen können, dass er sich diesmal beim Abschied plötzlich und ohne jede Vorwarnung nach vorne lehnen und mich küssen würde. Wir standen in der winzigen Garderobe und ich hatte gerade seinen abgeschabten Mantel unter den anderen hervorgefischt. Er überrumpelte mich völlig, sonst hätte ich mich rechtzeitig zur Seite gedreht. Denn ich wusste, was passieren würde. Vor einem Vierteljahrhundert hatte ich oft genug davon geträumt. Sein Kuss schmeckte dunkel, nach Tränen, Nordsee und dem Lachs vom kalten Buffet. Er erschütterte den Boden auf dem ich stand, und ich würde ihn nicht vergessen. Dann war Clemens fort, winkte unbekümmert noch kurz durchs Fenster ehe der Bahnhof ihn verschluckte.
„Jula, die Oliven sind alle!“ rief Benno und winkte mich Richtung Küche.
Mechanisch öffnete ich Gläser, füllte Schälchen, bediente.
Nach Mitternacht gingen die letzten Gäste. Wir räumten noch auf, wuschen ab, wischten, und dabei bat ich Benno um drei Tage Urlaub. In meiner winzigen Wohnung angekommen, rief ich Sina an. Sie gehört zu den Freundinnen, die man nachts um halb zwei anrufen kann, ohne Fragen gestellt zu bekommen. „Wir fahren nach Dänemark, zelten“, erklärte ich. „Okay“, sagte sie, „wann?“ Sie ist selbständige Fotografin, eine Motiv-Safari kommt ihr immer gelegen. Und niemals würde sie es für verrückt halten, im Oktober an einem nördlichen Meer zu campen.
Ich war auf der Flucht, vor Clemens und der Stadt, die nie schlief und in der man sich nicht denken hören kann. Es war aber gleizeitig ein Flucht nach vorn, hin zu etwas. Ich wusste nur noch nicht, zu was.
Wir fuhren die nächste Nacht hindurch. Gegen Morgen hielten wir auf einem kleinen Seitenweg an der Küste, dösten bis die Sonne grandios über dem Meer aufging. Im Radio lief Vangelis und an welkenden Grashalmen hing funkelnder Frost. Ich hätte heulen können vor Ergriffenheit bei dem Anblick, wie immer. Außer Sina versteht das keiner. Sie hockte schon mit der Kamera draußen, als ich aufwachte, während ihr Hund sich an der Mole erleichterte. Ich habe vergessen, wie er hieß. Ich betrachte Hunde mit demselben Respekt und der natürlichen Distanz wie Ameisen, Spatzen, Seehunde und alle anderen Wesen, die sich mit uns als theoretisch gleichberechtigte Gefährten auf dem Planeten herumtreiben. Sina hingegen teilt mit ihren Hunden das Bett, nennt sie Putzi oder Liebling und liest ihnen Artikel aus der Zeitung vor. Deswegen hatten wir auch zwei Zelte mit, eines für Sina und den Hund und eines für mich.
Viele Campingplätze hatten um die Jahreszeit geschlossen, aber wir fanden einen kleinen, weit abgelegenen, auf dem wir vor Jahren schon gewesen waren. Bald klebten unsere beiden kleinen Zeltkuppeln wie Schmetterlingspuppen in einem Dünental. Wir wanderten stundenlang am Strand entlang, den wir für uns alleine hatten, sammelten Kieselsteine, zählten die Möwenarten, während der Hund mit Seetang spielte. Der Herbstwind zerrte an uns, wehte Sina fast in einen Fluttümpel. Unsere Proviantschokolade wurde durch das Papier hindurch so sandig, dass wir gezwungen waren sie mit dem Taschenmesser zu schälen ehe wir sie aßen. Es war herrlich. Jeder Gedanke an Clemens wurde von den Böen sofort über das Wasser gejagt und vom fröhlich brausenden Schaum verschluckt. Abends wärmten wir Ravioli über dem verbeulten Campingkocher, erzählten uns Geschichten und krochen schließlich hochzufrieden in die Zelte. Mein Schlafsack wurde schnell behaglich warm. Die kleine Laterne reichte gut aus, um noch eine Weile zu schmökern, doch statt zu lesen, lauschte ich auf die Stille unter dem Wind, die ich zuhause so sehr vermisste. Ja, selbst den Wind hört man dort nicht, nur Stadtlärm: diese in eine kilometerbreite Schüssel aus Steinen und Zement gekippte breiige Suppe aus Autogebrumm, Industriegeräuschen, Sirenen, Gesprächs- und Musikfetzen, von der ein Gestank aus Gullys, Großküchen und Mülltonnen aufsteigt als wäre sie längst schon angebrannt und mittlerweile halb verwest. Er klebt sich in die Lunge wie Kaugummi. Warum nur war ich dort eigentlich zuhause, ausgerechnet ich?
Weil ich da geboren war, weil mein Leben dort irgendwie nie aufgehört hatte zu beginnen, und weil Clemens in dieser Stadt lebte. Weil es eine besondere Herausforderung war, gerade dort in den künstlich hellen, verqualmten Nächten überhaupt einen Stern zu entdecken. Weil Berlin wie ein Rausch war, nicht meiner zwar, aber mitreißend. Weil wir Ideale hatten – die Hausbesetzerzeit war fast schon vorüber, aber nicht ganz. Wir gründeten die WG, den alternativen Kinderladen, das Künstlercafè. Ich mischte überall mit, wurde gebraucht, spielte eine Zeitlang mit dem Gedanken, das Astronomiestudium zu schmeißen und eine Töpferwerkstatt zu eröffnen – aber an der Uni war Clemens, und so machte ich mein Diplom zu Ende. Doch es zog mich immer wieder hinaus ins Grüne; mit Clemens fuhr ich als Assistentin zu Seminaren am Wannsee, picknickte an der Havelchaussee und einmal krochen wir im Frühling abends unter dem Zaun hindurch in den Botanischen Garten, der schon geschlossen hatte und rezitierten in der Dämmerung auf den weitläufigen Krokushügeln Gedichte. Ein Stadtkind war ich trotz allem nie und träumte von einer Arbeit, die man auf Wiesen verrichten kann oder von einem Leben an der See.
Sina war die erste gewesen, die in eine bessere Gegend gezogen war, sich selbständig gemacht und ihr Fotoatelier eröffnet hatte. Auch andere waren gegangen. Nur Benno, ein, zwei andere und ich waren noch da und ein paar junge Leute, die ich kaum kannte. Ich trat seit Jahren auf der Stelle und hatte es nicht wahrhaben wollen. Clemens’ Kuss hatte mich aus meiner Lethargie gerissen und auf einmal kam mir alles flüchtig und substanzlos vor, eine Handvoll krümeliger Sand nur.
Plötzlich schmeckte ich Tränen, Meer – und Lachs. Ich schimpfte verhalten vor mich hin, befreite mich aus meinem Schlafsack, zog die Windjacke an und stieg in meine kalten sandigen Schuhe, die draußen vor dem Zelt standen. Aus Sinas Zelt drang vertrautes Schnarchen. Wenn Sina schlief, schlief sie. Aber der Hund kratzte vernehmlich an der Fliegengaze. Ich zog leise den Reißverschluss auf. Eigentlich hatte ich allein sein wollen, aber wenn der Hund ebenso unruhig war wie ich, hatte er wohl das gleiche Recht auf Wind um die Nase. Mit etwas Abstand zwischen uns erklommen wir den Deich, jeder in seine eigenen Gedanken gehüllt. Der Wind zog und zerrte an uns, aber er war ablandig, und hinter dem Deich war wie abgerissen alles ruhig. Auch die Wellen waren nur noch Falten auf dem Ozean als runzele die Erde leicht irritiert von unseren nächtlichen Schritten im Schlaf die Stirn.
Die jagenden Wolken vom Nachmittag waren mit der Sonne verschwunden. Am Himmel hingen alle Sternbilder versammelt, die in einen Herbsthimmel gehören. Ich warf mich rücklings in den Sand wie früher wenn wir Engel in den Schnee malten und benannte sie. Hier war das Land so flach, dass sich keine Himmelsrichtung hinter Gebäuden oder Hügeln verstecken konnte. Perseus und Fuhrmann, kleiner und großer Bär; der Schwan war im Westen gerade noch zu sehen bevor er für die nächsten Monate verschwand, während der Orion, einer meiner besonderen Winterfreunde, im Osten gerade über dem Horizont auftauchte. Über allem thronte die Kassiopeia fast im Zenit. Und mit ihr die Erinnerung an die Nächte mit Clemens am Teleskop.
Sterne werden für mich nie Messdaten sein, keine Größen der Astrometrie. Ich mag ihre Namen, ich reise gern mit Zeigefinger, Neugier und Phantasie über Sternkarten, aber letztendlich zählt für mich nur ihr Anblick in einer möglichst kalten, klaren Nacht. Sie sind für mich leuchtende Noten auf dem schwarzen Papier des Alls, hingeworfen von der ewigen Euphorie des Urknalls, Noten einer stummen gewaltigen Musik. Gegenüber der Großartigkeit dieser Musik werden das Meer und die Menschen gleichermaßen bedeutungslos – und doch sind wir Teil davon: ein zitternder, verwehter Ton irgendwo in der zweiten oder dritten Stimme.
Vor zweiundzwanzig Jahren hatte ich einmal für einen flüchtigen, demütigen Augenblick das Gefühl, genau diesen Ton getroffen zu haben, als Clemens und ich auf die Planeten warteten und auf den unwahrscheinlichen Fall, dass es in einer Juninacht in der Großstadt richtig dunkel würde. Ich spielte ihm auf meiner geliebten Piccolo-Flöte ein Stück von Telemann vor und auf einmal glaubte ich, ihn zu spüren, den einen Klang, der vom Himmel bis in die Erde reichte und auf dem mein Fühlen glückselig entlang fuhr wie auf einer unsichtbar gespannten Gitarrensaite.
Jetzt, viele Jahre später an diesem Herbstabend an einer gottverlassenen Küste Dänemarks hörte ich statt dessen oben im fernen Dunkel Wildgänse auf ihrem Zug nach Süden rufen. Sie brauchten kein Licht, orientierten sich an den Magnetfeldern, wussten immer genau, wonach sie sich richten mussten. Beneidenswert. Ich fragte mich, wie mein Magnetfeld aussah. Offenbar hieß es Clemens. Bis jetzt.
Der Hund buddelte ein Stück entfernt schnaubend an einem Kaninchenloch herum. Er schien genau das zu tun, was ihm in diesem Moment Freude machte. Ich sprang auf, zog die Schuhe aus und lief dorthin, wo der Sand feucht und fest war von den hohen Wellen des Nachmittags. Er ließ sich bestens auftürmen und formen, verschieben und festklopfen. Mit einer flachen Muschelschale schnitzte ich daran herum und vergaß mich und die Zeit völlig, spürte nur noch, wie die Form sich unter meinen Händen veränderte, wuchs, rundete. Im Grunde hatte ich das Töpfern nie ernst genommen, es war eine Tätigkeit am Rande gewesen, bei der ich völlig aus mir selbst fliehen konnte, für eine paar Stunden aufhörte zu sein sondern nur in der Gestalt unterwegs war, die ich zu erschaffen versuchte. Auch das eine Art Rausch. Meine Werke können so schlecht nicht gewesen sein denn sie verkauften sich sogar; man bestellte Krippenfiguren bei mir und auch Portraits. Aber seit Jana vor einigen Jahren mitsamt ihrem Brennofen aus dem Kiez fortgezogen war hatte ich keinen Ton mehr in der Hand gehabt. Ich hatte ganz vergessen, was für ein Höhenflug es war, etwas so Erdiges, Greifbares zu schaffen, etwas, das wog. Etwas, das blieb.
Oder auch nicht – wenn es aus Sand war.
Der Mond war längst aufgegangen, überstrahlte frech ein paar der Sterne und warf meinen Schatten lang verzerrt über den Sand. Der vierbeinige des Hundes wirkte noch grotesker. Er kam, meine vergängliche Skulptur kritisch zu untersuchen, nieste ohne zu zerstören und machte sich wieder auf seine eigenen Wege. Am Rande des flüsternden Meeresdunkels blickte ein überdimensionales Gesicht in den Himmel als gehöre ihm die ganze Milchstraße. Clemens. Ich kannte doch jede seiner Denk- und Lachfalten, auch die kleine Müdigkeit, die sich hier und da in den Winkeln festgesetzt hatte, die beweglichen Schatten. Ihn zu portraitieren war keine Kunst, auch nicht mit Sand, gerade nicht mit Sand, der genauso im ewigen Fluss war wie er.
Mitternacht war still verstrichen, der noch ferne Morgen schob als Vorboten aus Osten den Wind vor sich her, der wieder Fahrt aufnahm und seinerseits die Wellen auftürmte wie ich soeben noch den Sand. Sie züngelten in die Bucht, ihre Schaumkronen fingen das Mondlicht, flammten hell auf den Strand und kosteten wie die Zeit an dem Gesicht im Sand. Ich stand daneben und sah wie es krümelte, fiel, mit der Flut ins Ganze floss und sich ebenso löste wie etwas in mir. In der Ferne kämpfte der Hund am Flutsaum mit bizarren Drachen aus Tang und triumphierte glücklich über seinen Sieg oder das, was er dafür hielt. Offenbar hatten wir beide Ähnliches mit dieser Nacht vorgehabt.
Der Strand lag glatt und unschuldig, der Mond ging und die Sterne kehrten unversehrt zurück. Sie gehörten Clemens nicht mehr als sie mir oder dem Hund gehörten. Ich konnte sie jederzeit auch ohne ihn schauen, ihr Klang war überall hier in der wunderbar einsamen Weite. Leicht fühlte ich mich, tobte mit dem Hund in der Gischt. Wir spritzten silberglänzende Tropfen als Gruß Richtung Kassiopeia. Orion war unser strahlender Zeuge am Horizont. Ich spürte Feuchtigkeit auf meinem Gesicht, schmeckte Tränen, Nordsee und – Hering. Hering und Krabben sollten fortan genügen; ich brauchte keinen Lachs.
Diese Reise war keine Flucht gewesen, war überhaupt keine Reise, sondern eine Heimkehr in meine Zukunft. Clemens’ überraschender Kuss hatte mich befreit, hatte meine Sehnsucht nicht nach ihm geweckt sondern nach dem, was ich eigentlich war: nach den Träumen, die ich in der Zeit verschlampt hatte. Ich erkannte sie wieder, es waren allein meine.
Der Morgen schlich sich über das Meer. In meinem Übermut baute ich noch eine Möwe auf den Sand, eine stolze, aufrechte, die gerade die Flügel leicht anhob zu einem Flug Richtung Osten, wo das erste Licht Orion verwischte.
Sina schnarchte immer noch, als ich den nassen Hund in ihr Zelt ließ.
Der Winter war nicht lang in diesem Jahr. Ich nutzte ihn, um ein Geschäftskonzept für eine Töpferei zu entwickeln und mit Glasuren zu experimentieren. Der Frühling fing gerade erst an, als ich die Stadt für immer verließ, um an die Nordseeküste zu ziehen, dort, wo ich den stummen Klang der Sterne in Formen fassen würde, denen ein bestimmter Glanz eigen war.

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Wem diese Geschichte gefallen hat, der findet mehr in

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Eine Leseprobe aus dem Buch gibt es z.B. hier.

Sommergedicht 5 – Gewitter

gewitter

Gewitter
(c) Patricia Koelle

Wenn Blitzes Schwert und Donnergrollen
den bleiern Abend überrollen,
wenn Amsel schweigt und Eiche zittert
Kaninchen in die Wolken wittert –

wenn Stadtstaub und die Schwüle fliehen,
Sturmwirbel freche Kreise ziehen,
Schauer streng die Blätter beugen
und uralten Kreislauf zeugen –

wenn müde Erde warm befeuchtet
duftend voller Tropfen leuchtet,
von Himmelsgaben neu begründet
erfrischte Lebensfreude zündet –

wenn was man denkt und was man fühlt
vom Firmament mal durchgespült,
so ist das oft der Weisheit Dünger
macht im Geiste manchen jünger:

und ist lichter Morgen hier
geht es der Welt und dir und mir
nachdem es sich so ausgeregnet
als wärn wir uns ganz neu begegnet

Zum Valentinstag

Rosen1

Valentinstag
(c) Patricia Koelle

Heute ich Dir einmal sag
Wie gut ist Deine Nähe!
Es ist als ob ich Tag für Tag
Mit Dir durch Frühling gehe.

Wiegt Sorge plötzlich schwer
Seh ich Dich einfach an
Schon gilt sie gar nicht mehr
Wir wachsen beide dran.

Ist der Himmel tief und grau
Trübt mir das keine Stunden
Mit Dir ist er ja hoch und blau
Du hast ihn neu erfunden.

Ich find zuwenig Worte
Egal wie sehr ich such
Doch von der lieben Sorte
Stehn viel in diesem Buch.

Blumen welken, doch im Leben
Worte stets erneuern sich
Drum möcht eins ich frisch Dir geben
den alten Satz: Ich liebe Dich!

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Dieses Gedicht ist für alle, die zum Valentinstag ein Buch verschenken möchten. Wie eine Freundin schrieb: Das kostet kaum mehr als ein Blumenstrauß oder Pralinen, hält aber viel länger!

Guten Gewissens kann ich versprechen, dass mein Buch „Die Füße der Sterne“ sich dafür gut eignet. Es ist ein Strauß aus unterhaltsamen Geschichten, in denen jede Menge Liebe vorkommt. Robin holt für Viktoria nicht die Sterne vom Himmel sondern verändert gleich den ganzen Himmel. Eine junge Journalistin soll einen kauzigen Wissenschaftler interviewen und stellt fest, dass sein Lächeln es locker mit den Naturwundern aufnehmen kann, die er erforscht. Ein pedantischer Hausmeister erfindet sich im Urlaub neu und traut sich am Ende sogar, die Biologielehrerin zum Essen einzuladen. Für Felix beginnt das Leben eigentlich damit, dass er auf der Abiturfeier endlich Cornelia küßt. Und Ella begegnet zuerst den Füßen eines Mannes, der sie feststellen läßt, dass sie nicht zu alt ist, um zu lieben.

Eine Geschichte über das Streiten

Ich stelle hier mal eine Geschichte vor, die schon viele Leser nachdenklich gemacht hat. Es ist eine Geschichte über den ganz normalen kleinen Ehekrach.

Der Verlust
© Patricia Koelle

Amselgesang weckt Tina in einen hellwarmen Märztag hinein. Ihr erster Blick fängt Nikos Profil neben ihr auf dem Kissen, der Umriss seiner Nase wie ein Ausrufezeichen hinter dem Morgen. Jedesmal ist sie dankbar für diesen Anblick. Man kann nie wissen, wie oft er noch da sein wird. Es ist nicht selbstverständlich, dass man alles zu zweit beginnen kann, vor allem einen ganz normalen Tag mit Haaren im Waschbecken, verlorenen Pantoffeln und Brötchen mit Erdbeermarmelade. Dass jemand da ist, der einem einen Kuss auf den Nacken setzt und den Gürtel in der hinteren Schlaufe gerade rückt, wenn der sich mal wieder verdreht hat.
Dass Niko sie anlächelt, nur so, wenn sie sich begegnen, auch wenn sie nur eine Kaffeetasse in die Küche getragen hat und höchstens zwanzig Sekunden aus dem Zimmer war. Dass er in der Gärtnerei im selben Augenblick nach genau demselben Primeltopf greift. Dass er irgendwann das Bettenbeziehen übernommen hat, ohne je ein Wort darüber zu verlieren, weil er weiß, dass sie die Knopflöcher an den Bettbezügen zu klein findet und nicht leiden kann.
Dafür saugt sie den Schmutz weg, den er jeden Tag ins Schlafzimmer bringt, weil er in all ihren elf gemeinsamen Jahren erst dort seine Straßenschuhe gegen die Pantoffeln tauscht und sich dann über die Spuren auf dem Teppich wundert. Ohne diese Erdkrümel würde Tina etwas fehlen. An den Krümeln sieht sie, dass die Tage vergehen wie sie sollten, mit Niko und viel Leben darin.
Dieser Märztag ist ein Sonntag, kein Wecker und keine Arbeit reißt sie auseinander. Tina kann warten, bis auch Nikos Blick aufwacht, und Niko sich zu ihr dreht und den Arm um sie legt und sie sich aneinander wärmen, ehe sie dem Tag entgegengehen. Sie freuen sich auf diesen Tag, nicht weil etwas Besonderes in ihm zu erwarten ist, sondern weil es ihn gibt und er ihnen gehört und er der Anfang vom Frühling sein könnte, da die Amsel so nachdrücklich singt.
Am Frühstückstisch teilen sie sich die Zeitung und das Staunen über den schnellen Wechsel von späten Schneeschauern und warmer Sonne vor dem Fenster. Sie stehen an die Heizung gelehnt und zählen die Krokusse draußen im neuen Beet, überlegen, wo sie in diesem Jahr die Sonnenblumen pflanzen sollen, damit die Schnecken nicht wieder alle auffressen.
Dann trägt Niko den Mülleimer hinaus, und als er wiederkommt, ist alles anders.
„Wie kann Dir sowas passieren? Wie kann man nur so dumm sein?“ schreit er sie an. Er hält ihr einen Brief vor, den er draußen im Laub unter dem Apfelbaum gefunden hat. Ein wenig feucht ist er, eine Spur Erde haftet an der Ecke neben der Briefmarke, sonst ist er unbeschädigt.
Tina fühlt, wie ein Riss durch alles geht und der Boden unter ihren Füßen ins Rutschen gerät. Sie weiß, dass Niko ein wenig jähzornig ist, immer dann, wenn sie es am wenigsten erwartet. Ebenso weiß er, dass sie manchmal unordentlich ist oder ihre Gedanken ganz woanders sind als sie selbst.
Das ist bei ihnen beiden eben so, so wie das junge Gras grün und die Ostereier bunt sind. Sie haben versucht, sich zu ändern, aber es gelingt nur ansatzweise, verschwindet auch wieder, so wie die neue Farbe am Gartenzaun sich nach einer Weile löst.
Der Brief ist ein Bankbrief, nicht sehr wichtig, aber eben auch nicht ganz unwichtig. Er muss Tina vor ein paar Tagen aus der Hand geflattert sein, als es so stürmisch und regnerisch war und sie schnell wieder ins Haus gerannt ist mit dem dicken Stapel Post aus dem Kasten am Tor. Er wird in der Zeitung gesteckt haben und ist herausgerutscht und für den Wind zum Spielzeug geworden, der das blaue Kuvert dann achtlos unter dem Apfelbaum liegen ließ. Jetzt hat er es in einer neuen Laune Niko direkt vor die Füße geweht. Natürlich hätte es auch für immer verschwunden bleiben können, oder einem Unbefugten in die Hände geraten.
Tina entschuldigt sich, kann es aber nicht lassen, anzumerken, dass Niko das hätte auch passieren können, wenn er derjenige wäre, der die Post hereinholt. Die Worte lassen sich einfach nicht verschlucken, sie witschen aus ihr heraus, ehe sie sie festhalten kann, obwohl sie genau weiß, dass es besser wäre. Sie nehmen nur noch mehr Licht aus dem Morgen.
Er wäre nie so blöd, sagt er, weil seine Wut, von der er gar nicht weiß, woher sie kommt, noch keine Zeit hatte, wieder klein zu werden. Er weiß ja, dass diese Wut viel größer ist als der alberne Brief, und er ärgert sich über sich selbst. Darum ist es auch nicht gut, dass Tina, in die von seiner Wut etwas hinübergeschwappt ist, weil sie ihm so nahe ist, ihn einen Macho nennt. Das ist ungerecht, sie wissen es beide, aber auch er war ungerecht.
Eigentlich ist es ihnen schon wieder egal, der Brief und der Ärger sind so winzig, wenn man sie auf die Waage legt gegen dass, was sie sonst haben, gegen die Zärtlichkeit nämlich, das blinde Verstehen, die gemeinsamen Wege, die Erinnerungen und die Hoffnungen.
Aber die Wut ist langsamer und noch übrig, schwappt in ihnen und um sie herum wie eine Flutwelle aus zähem Schlamm, und weiß nicht, wohin sie ablaufen soll. Aus der Wut wird Schweigen, bodenloses, hässliches Schweigen, und ein dumpfer Schmerz wie eine Prellung, als wären sie mit dem Gesicht gegen eine geschlossene Glastür gerannt, jeder von einer Seite.
Er dreht im Wohnzimmer die Musik auf volle Lautstärke und sagt, er wolle seine Ruhe haben.
Sie geht in ihr Zimmer am anderen Ende vom Haus, sitzt eine Weile ganz still. Als sie Angst bekommt, zu zerspringen, wenn sie noch länger auf ihren Atem und die Leere lauscht, fängt sie an, zu bügeln. Erst ihre Blusen, dann seine Hemden, aber die Hemden machen sie traurig, weil sie ihn darin sieht und spürt, und dabei er ist doch so erschreckend weit weg.
Als die Hemden ein säuberlicher Stapel sind, viel glatter als ihre Gedanken, geht sie nach Niko sehen, lugt vorsichtig um die Ecke. Ihre Wut ist verdampft, zusammen mit dem Wasser aus dem Bügeleisen. Jetzt ist da noch die Traurigkeit, die aber schwer wiegt, so schwer, dass sie sie keine Sekunde länger allein tragen mag.
Niko sieht sie, ohne den Kopf zu wenden. Er macht keinen Schritt, dreht nur die Musik noch lauter.
Später sieht Niko seinerseits nach Tina, wirft einen behutsamen Blick in ihre Tür. Sie wendet den Blick auf die Bügelwäsche und ihm den Rücken zu.
Er holt sich eine Strickjacke aus dem Winterschrank, ihm ist unerklärlich kalt.
Irgendwann fragt sie ihn, ob er essen wolle, und bekommt nur ein Knurren. Sie kocht wie immer, klammert sich an der Gewohnheit fest und am Löffel. Sie ruft, ohne Antwort. Isst drei Bissen ohne Appetit und stellt für ihn einen sorgsam zugedeckten Teller auf die Wärmeplatte, gefüllt bis zum Rand und mit einer Blume aus Ei und Petersilie dekoriert.
Dann geht sie in den Garten, zieht das erste Unkraut heraus. Niko hat die Vögel gefüttert, den ganzen Winter lang, und Tina hat auf dem Sofa auf seinem Schoß gesessen und sie beobachtet. Die Kerne, die heruntergefallen sind, werden jetzt zu kleinen grünen Versuchen, aber sie kann es ihnen nicht erlauben, denn an diese Stelle sollen ja die Sonnenblumen. Tina kann sich nicht konzentrieren, sie wartet auf Nikos Schritt, und darum bleiben manche von den kleinen grünen Versuchen stehen und zielen weiter Richtung Himmel.
Als es zu regnen beginnt und ein scharfer Wind aufkommt, ist sie ganz sicher, dass Niko jetzt kommt und sie hereinholt oder ihr wenigstens den Regenmantel bringt, aber als sie durchs Fenster schielt, schaltet er zwischen Fußball und dem Wetterbericht hin und her.
Sie macht einen Schritt ins Haus und dann doch wieder zurück. Drin ist ihr, als wäre sie in die alte Presse geraten, in der sie im letzten Jahr Herbstblätter getrocknet hat, um Bilder daraus zu machen.
Die Straße hinunter gibt es einen schmalen Wald und einen langsamen Bach, der sich in die Erde gegraben hat. Die Sonne hat den Schauer wieder verdrängt. Tina hockt sich an den steilen Abhang und sieht auf das Glitzern im Wasser. Sie wickelt sich in ihre Arme, hofft, dass die Sonne, die schon tief Richtung Abend gerutscht ist, den bitteren Raureif in ihr verwischt.

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„Alles in Ordnung?“ fragt ein älterer Mann, der mit seinem Schäferhund vorbeigeht und leicht und sorglos aussieht.
Sie sieht zu ihm auf, weiß nicht, was sie antworten soll. Kann doch nicht ja sagen, es wäre so ungeheuer gelogen. „Die Weidenkätzchen blühen schon“, sagt sie schließlich, weil es die Wahrheit ist.
„Ja, endlich Frühling“, stimmt er zu und geht weiter.
Aber sie will den Frühling da haben, wo er hingehört, zwischen Niko und ihr soll er wieder sein, jetzt sofort. Was soll sie sonst machen mit ihrer Sehnsucht, die unerträglich, atemlos und wundervoll zugleich ist. Sie wird zu Niko gehen, ob er möchte oder nicht. Die Sonne fällt schon hinter die Häuser. Wenn sie sich nicht wiederhaben, ehe es Nacht wird, wer weiß, ob sie ihn je findet.
Doch sie kann sich auf einmal nicht rühren, etwas lähmt sie, etwas in dem Abendschatten, der über den Bach kriecht, immer näher kommt. Es ist eine Trauer, die viel größer und dunkler ist als die Traurigkeit von vorhin. Sie spürt, dass jemand gestorben ist. Oder etwas.
Der alte Herr mit Hund kommt von seinem Spaziergang zurück. Der Hund ist nass, müde und zufrieden.
„Sie sitzen ja immer noch da“, sagt der Mann und setzt sich auf einen Stein, ein Stückchen entfernt von ihr. Der Hund legt sich daneben. Beide sehen sie an, mit einer freundlichen Frage in den Augen.
Tina holt tief Luft. „Wir haben uns heute früh gestritten, mein Mann und ich“, sagt sie, als reiche das als Erklärung.
„Und Sie sind sehr traurig“, sagt der alte Herr. Der Hund wedelt einmal mit dem Schwanz.
„Schlimmer. Es ist ein Gefühl, als wäre jemand gestorben“, sagt Tina.
„Ja“, sagt der alte Herr. „Es ist der Tag. Dieser Tag, der Euch beiden gehört hätte, ist gestorben, ohne Licht darin. Ihr habt ihn nicht gelebt. Habt ihn einfach weggeworfen.“ Seine Stimme ist leise, aber deutlich, und jedes Wort bohrt schmerzlich in Tina herum. „Andere Dinge, die man verliert, kann man wiederfinden. Diesen Tag niemals. Du kannst um die Welt reisen und wirst ihn niemals einholen. Er ist für immer verloren.“
Der Hund hob den Kopf und knurrte einmal.
„Du kannst ihn durch keinen anderen ersetzen“, fuhr sein Herr unerbittlich fort. „Egal, was ihr anstellt. Ihr könnt noch vierzig Jahre miteinander aufwachen und jeden Tag mit einem Lächeln beginnen, ihn Hand in Hand verbringen und abends mit Kerzenlicht und einem langen Kuss beenden, aber diesen hier werdet ihr nie wiederbekommen. Wenn ihr eines Tages auseinandergehen müsst, wird er in eurer Geschichte fehlen. Ein Loch darin sein.“
Tina scharrt nervös mit der Hand in der feuchten Erde, ohne es zu merken.
„Seht Euch vor“, sagt der alte Herr und steht mühsam auf, „dass es nicht zu viele davon werden.“ Er stützt sich einen Moment auf seinen Hund, dann gehen beide auf den Weg zurück. Jetzt erst fällt Tina auf, dass er wirklich sehr alt ist. Sein Rücken ist gebeugt und sein Atem kurz. „Und übrigens“, sagt er noch, „Jemand anderes hätte diesen Tag vielleicht dringend gebraucht.“ Dann verschlucken ihn die Schatten.
Tinas Trauer bleibt und mischt sich mit Entsetzen. Sie blickt hinunter und kann in der Dämmerung gerade noch erkennen, dass ihre Hand einen Hügel wie ein kleines Grab gescharrt hat. Sie steckt zwei winzige Äste zu einem Kreuz darüber und legt ein Gänseblümchen darauf, dass seine Blütenblätter in der feuchten Abendluft schon geschlossen hat.
Dann springt sie auf und rennt dahin, wo Niko ihr schon mit offenen Armen entgegeneilt und sie so fest und lange hält, dass sie weiß, es ist ihnen nichts verloren gegangen.
Außer diesem Märztag.
Noch lange danach huscht der für immer verlorene Tag und ihr Erschrecken darüber durch Tinas Leben wie ein Gespenst. In keinem Frühjahr pflanzt sie Sonnenblumen, ohne an die Samen zu denken, die sie an jenem Tag nicht mit Niko gesät hat. Wenn sie Nikos Hemden bügelt, flackert eine Trauer in ihr auf. Und wenn sie gekocht hat, freut sie sich darüber, dass sie nicht allein am Tisch sitzt.
Sie streiten sich weiterhin hin und wieder, über alle Jahrzehnte hinweg, denn Niko ist ein wenig jähzornig, und Tina unordentlich und mit ihren Gedanken gelegentlich ganz woanders, und das ändert sich nicht, so wie der Gartenzaun an derselben Stelle bleibt, egal welchen Anstrich er bekommt.
Und doch gehen sie sorgsamer mit der Zeit um und morden nie wieder einen ganzen Tag, der ihnen anvertraut worden ist.

Silvester

schneeäste© Patricia Koelle

Silvester
(c) Patricia Koelle

Es war ein wirklich buntes Jahr
Manches wurde darin wahr
Um einige mussten wir bangen
Andre sind für immer gegangen
Freunden wurden Enkel geboren
Bekannte haben Geld verloren
Mach Sturm hat sich zusammengebraut
Viel Neues wurde aufgebaut

Wir zwei haben zusammen gelacht
Und die Steuererklärung gemacht
Wir haben gemeinsam getrauert
Und auf Lottozahlen gelauert
Haben uns bei der Arbeit bewiesen
Und fanden auch Zeit zum Genießen
Haben Träume gebucht
Und die Sonne gesucht
Sie genau hier entdeckt
Mit Seifenblasen geneckt
Trieben glücklich oft Unfug
Der Himmel war hoch genug

Nicht jeder Vorsatz ward umgesetzt
Da hat die Zeit zu sehr gehetzt
Aber andre Dinge gelangen
Es kann die Zukunft anfangen
wird neue Absichten geben
Doch vor allem wollen wir leben
Solange du bei mir bist
Und alles bleibt wie es ist
hält das Schicksal uns nicht auf
Ich geb dir einen Kuss darauf
Und wünsche der Welt
Dass das neue Jahr hält
Voller Hoffnung und Licht
Was sich jeder verspricht.

Der Weihnachtsbaumsieg

Heute war der große Tag, an dem wir den Weihnachtsbaum gekauft haben. Für uns hat das jährlich eine ganz besondere Bedeutung: dass Peter es immer noch schafft, den Weihnachtsbaum nach Hause zu bringen.
Heute war eigentlich alles gegen uns. Der Elektrorollstuhl ist seit Wochen nicht in Ordnung. Etwas stimmt mit der Elektronik nicht, immer wieder fällt sie teilweise aus und dann geht gar nichts mehr. Aber da keine Werkstatt den Fehler findet, müssen wir damit leben. Außerdem sind unsere gewohnten Weihnachtsbaumhändler um die Ecke, die es gab seit ich denken kann, dieses Jahr nicht erschienen. Wir mussten also zum weiter weg gelegenen Baumarkt. Der aber hat eine sehr lange, extrem steile Einfahrt. Der Rolli kann das gerade noch bewältigen. Darum sind wir auch heute gefahren, trotz Regens und Kälte, denn wenn der angesagte Schneematsch erst kommt, geht das überhaupt nicht mehr. Der Regen ist allerdings auch nicht gut für den Rolli, und die Kälte nicht für Peter – die wenigen halb funktionstüchtigen Muskeln, die er noch hat, werden bei dieser Temperatur so steif, dass er kaum noch lenken kann.
Dort angekommen, stellten wir fest, dass in dem großen Baumarkt nur eine ganz kleine Ecke für den Tannenbaumverkauf gedacht war. Ohne die vom Weihnachtsbaumverkäufer gewohnte nette Bedienung und Beratung mit Zollstock. Die wenigen Bäume, die da lieblos hingeworfen waren, teils verpackt und sehr zerdrückt, sahen aus wie die Wirtschaftskrise persönlich – unten hungrig und oben herum sehr nackt.
Aber auf meinen persönlichen Weihnachts-Mann kann ich mich verlassen. Der fuhr ein paarmal im Kreis, nahm die armseligen Gewächse genau in Augenschein und sagte dann: „Der da hinten, der dritte von links unter den fünf krummen – der ist es!“
Ich zog ihn am Wipfel heraus – der ziemlich schief war, schüttelte, und wir stellten fest, dass das tatsächlich der einzig passable unter allen war. Nicht nur das, er hatte etwas ausgesprochen Individuelles und war sogar unten herum so schlank, dass er ins Wohnzimmer passt und Peter trotzdem noch vorbeifahren kann.
Wer braucht schon einen perfekten Baum – gerade wir doch nicht! Bei uns darf alles rein, was irgendwie ein bisschen schief, krumm oder anders ist. Mit diesem haben wir uns sofort verstanden.
Ich schob den Baum also durch den Trichter mit dem Netz – hatte ich auch noch nie gemacht, ging aber ganz leicht – und fand keine Schere, mit der man das Netzt hätte abschneiden können. Aber wozu waren wir in einem Baumarkt. Ich habe mir die teuerste Baumschere geschnappt und damit die Nylonfäden durchgesägt. Aber zurückgelegt habe ich sie nicht sondern für die anderen Kunden liegen lassen. Selber schuld, wenn weit und breit keine Bedienung da ist.
Nun brauchten wir nur noch Peters Hand wenigstens etwas aufwärmen und richtig an den Fahrhebel legen, den Baum hinten auf seinen Gepäckträger stellen, ich stützte die Spitze, und ab ging es, zur Kasse und dann die steile Einfahrt wieder rauf. Die Batterie vom Rolli ist auch nicht mehr so fit, schon gar nicht bei Kälte, aber sie hat es so gerade noch geschafft. Übrigens haben wir noch nie einen so billigen Baum bekommen. Da sie keiner ausgemessen hat, hatten sie einen Einheitspreis. „Der ist halt dies Jahr etwas kleiner, macht doch nichts“, meinte Peter. Nein – das macht wahrlich nichts! Hauptsache, meinem Schatz geht es so gut, dass solche Aktionen noch möglich sind. Alles andere ist mir sowas von egal – da kann der Baum meinetwegen auch dreißig Zentimeter hoch sein.

Wir sind auch bis nach Hause gekommen, zur Freude der Autofahrer über drei Ampeln hinweg. Es wirkt immer ein wenig wie eine Prozession.
Auf der Terrasse haben wir ihn wieder aus dem Netz befreit und erstmal an den Zaun gelehnt, wo wir ihn durchs Fenster sehen und uns jeden Tag daran freuen können bis wir ihn hereinholen.
Dann habe ich ihn ausgemessen. Und, was soll ich sagen? Wer meine Geschichte „Der Rollbaum“ kennt, wird nicht überrascht sein.
Der Baum ist ganz genau zwei Meter vierzig hoch. Wenn man sich die schiefe Spitze gerade denkt. Aber es gibt nichts, was wir besser können als das.
Auf der Terrasse, auf der er jetzt steht, blühen über dem Torbogen immer noch die Rosen unverzagt vor sich hin, obwohl wir wiederholt Frost und Schnee hatten. Ich werte das mal als ein sehr gutes Zeichen für unsere Liebe.

Aus meiner Geschichte „Der Rollbaum“ in „Der Weihnachtswind
(eine Geschichte, die sich wegen ihrer Kürze sehr gut zum Vorlesen eignet).

„Wenn im Dezember ein klarer Tag kommt, an dem die Welt winterhimmelblau leuchtet, dann sehen die Nachbarn in der Kranichstraße öfter aus dem Fenster als sonst. Sie wissen, dass an einem solchen Tag Johannes seine Weihnachtsmannmütze aufsetzt, seine Frau ruft und mit seinem Rollstuhl losfährt, um den Weihnachtsbaum zu holen.
Eine Krankheit hat Johannes die Schritte gestohlen, obwohl er noch jung ist. Aber zu seinem Weihnachtsbaum kommt er trotzdem. Dieser Baum soll mindestens so groß sein wie Johannes, wenn er aufrecht stünde. Und Johannes ist kein kleiner Mann. Innen ist er sogar noch größer. Vielleicht wird der Baum deswegen jedes Jahr ein Stückchen höher.
Der Elektromotor vom Rollstuhl brummt, als hätte sich eine Hummel aus dem Sommer verirrt, und unter den Reifen knirscht der Schnee. An den Bordsteinkanten muss Johannes vorsichtig sein und rückwärts fahren, sonst kippt der Stuhl um. Manchmal muss er auch Umwege fahren. Aber egal, wie lang es dauert, Johannes kommt an. Der Baumverkäufer freut sich schon, wenn er ihn von weitem sieht.
Johannes fährt auf den Platz voller Bäume und dreht sich ein paar Mal schweigend im Kreis. „Der da“, sagt er dann und zeigt auf einen, der ganz weit hinter den anderen am Zaun lehnt.
Der Verkäufer zieht den Baum heraus. „Stimmt“, sagt er anerkennend, „das ist der Schönste. Aber ist der nicht zu groß?“
„Der ist zwei Meter vierzig“, sagt Johannes, „der passt genau!“
„Der ist mindestens zwei achtzig“, sagt der Verkäufer und greift den Zollstock aus der Tasche. Dann schüttelt er den Kopf, denn der Baum ist auf den Zentimeter genau zwei Meter vierzig hoch. Johannes strahlt.
„Wie kommt der Baum jetzt nach Hause?“ fragt der Verkäufer, obwohl er die Antwort kennt. Er hört sie so gerne.
„Das macht mein Mann“, sagt Johannes’ Frau stolz.“

Wer wissen will, wie die Geschichte weitergeht, findet sie hier:

Weihnachtsgeschichten

Weihnachtsträumerei

Wenn ich jetzt die weihnachtlichen Lichter auf den Straßen sehe und an dem Café vorbeigehe, in dem meine Geschichte „Cafékalender“ spielt, glaube ich manchmal, Paul Kiewitz dort sitzen zu sehen. Ob er immer noch mit der Kellnerin Christina als Komplizin heimlich den traurigsten Gästen eine Adventsüberraschung zukommen lässt?
Ich wünsche mir dann, ich könnte mich wirklich mit den Menschen aus meinen Geschichten dort an einem Tisch treffen und hören, wie es ihnen geht. Herausfinden, wie sie miteinander auskommen – schließlich leben sie alle in einem Buch („Die Füße der Sterne“) zusammen. (Naja, fast alle, denn Paul und Christina sind aus „Der Weihnachtswind„). Irgendwie vermisse ich sie, schließlich habe ich sie erfunden. Aber ihre Geschichten sind längst fertig, und ich muss mich am Ende jeder Geschichte von ihnen verabschieden.
Wie es wohl Viktor geht – ob er inzwischen ein Zuhause gefunden hat? Ist die junge Journalistin Karla März befördert worden, nachdem ihr trotz des störrischen Forschers mit dem unmöglichen Benehmen dieser tolle Artikel gelungen ist? Und was ist mit Theo Knoll, diesem Pedanten, der sich so verändert hat – ist er jetzt mit der Biologielehrerin zusammen? Ich sehe ihn vor mir, wie er ihr einen dampfenden Tee eingießt. Karla trinkt natürlich lieber Cappuccino. Paul tuschelt da drüben mit Christina, die hecken ganz sicher schon wieder etwas aus.
Frank kann ich hier nicht treffen, der ist ja leider verstorben, nachdem er sich seinen verrückten Traum erfüllt hat. Ja, aber die resolute Frau da drüben, das könnte Regina sein, die für die Kollegen vom Flughafen ein mehr oder weniger verdächtiges Weihnachtsgeschenk sucht. Und im Gemüseladen, die Frau, die die Äpfel in die Tüte packt – ist das Reni, und spielt sie immer noch morgens im Park mit der dreiundneunzigjährigen Lene verstecken?
Das Pärchen dort, das Hand in Hand an dem Stand mit den Kerzen stehen bleibt, so habe ich mir Rainer und Viktoria vorgestellt, für die Robin damals die Sterne durcheinander gebracht hat. Ob er wohl doch noch dafür gefeuert wurde?
Gern würde ich sie alle auf ein Crépe einladen oder eine Bratwurst. Aber stattdessen werde ich wohl nie erfahren, was aus ihnen geworden ist. Und ob Menschen das Buch kaufen und Karla, Theo und die anderen auf diese Weise für einen Lesemoment in ihr eigenes Leben einladen. Das wünsche ich mir – denn jedes Mal, wenn eine der Geschichten gelesen wird, werden Karla, Theo, Reni und die anderen ein klein wenig wahr und lebendig. Das wäre schön, denn sie alle zeigen, wie es ist, ein ganz normaler Mensch zu sein und doch immer Hoffnung in sich zu tragen oder wiederzufinden. Sie passen, obwohl es sich um Geschichten für das ganze Jahr handelt, in diese dunkle und doch helle Zeit, in die Weihnachtstage, denn sie haben erfahren, warum sich das Leben lohnt, und wissen davon zu erzählen, ganz einfach indem sie sind, wie sie sind.

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