Die Berliner Mauer in Schweden

Ich bekam eine nette E-Mail von einem Lehrer in Schweden:

„Liebe Patricia,
Das war eine grosse Überraschung für mich unde meine Schüler, dass wir Sie auf dem Internet gefunden haben und ausserdem, dass Sie uns geschrieben haben.
In den siebziger Jahren habe ich unter anderem Germanistik an der
Göteborger Universität studiert und im Jahre 1974 auch Berlin
besucht. Ich habe da Ost-Berlin besucht auf der anderen Seite der Mauer.
Ich erinnere mich heute an zwei Dinge, Reisefüher / Guide Ruth im
Treptow Park. Ich habe sie gefragt ob sie die Möglichkeit hätte nach
England zu fahren oder ganz einfach ins Westen zu fahren um schöne
Musik in einem anderem Land zu hören. Sofort habe ich da die Tränen auf ihren Backen gesehen und habe nichts weiter gesagt. Zweitens habe ich von einer Dame im Garderob auf dem restaurant Moravia am Alexanderplats erfahren, dass sie am Abend des 13. August 1961 versucht habe ins Westen zu flüchten, zu spät aber weil die Grenzlinje schon von Polizisten gesperrrt war.
Was ich in Berlin erlebt habe zu der Zeit, aber auch später, ich war
auch in Berlin drei Tage nach dem Jubiläum, hat mich inspiriert ein
Projekt über die Mauer durchzufüren. Wir haben also versucht ein Stück
Mauer zu bauen, mit Graffiti, Bilder/Dokumentation aber haben auch
versucht ein Gefühl zu schaffen mit Ihrem Gedicht „Grenzverlauf“ Ich
habe das Gedicht auf dem Internet gefunden, gelesen und mit meinen
Schülern diskutiert.
Unsere kleine Stadt Herrljunga liegt 80 km östlich von Göteborg…“

Auch mit einer seiner Schülerinnen hatte ich über Facebook einen kleinen Briefwechsel und nun wurden mir Fotos des Projekts geschickt:

Ich finde es sehr schön, dass den Schülern in einem anderen Land die Mauer auf so bildhafte Weise in Verbindung mit eigenen Erfahrungen des Lehrers nahegebracht wird. Und es freut mich, dass mein Gedicht, meine Worte etwas dazu beigetragen haben. So haben wir wohl auch dieses Buch nicht umsonst herausgegegeben:

Lesung zum Mauerfall

08. November 2009 11 Uhr

Mauerstücke – Erinnerungsstücke

Kostenfreie Bildung am Sonntagmorgen

Vor 20 Jahren fiel die Berliner Mauer, die von 1961 bis 1989 unser Land in zwei feindliche Lager teilte. Geschichten zahlreicher Autoren aus Ost und West erinnern an die deutsch-deutsche Grenze. Die Autorinnen und Herausgeberinnen Bettina Buske und Patricia Koelle stellen ihre Geschichten vor.

Ort: Kontaktstelle Wilmersdorf, Sigmaringer Str. 28, B-Wilmersdorf

U-Bhf. Blissestraße od. Fehrbelliner Platz, Tel. 86409307

Kontakt und Anmeldung: Christel Heilmann, Telefon und Fax 883 25 27

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Berliner Notiz 1989

Mauer 502

Im Januar 1990 gab es einen Aufruf im Radio – und zwar nicht nur im Westen sondern auch in der noch existierenden DDR. Es wurden Texte zum Mauerfall gesucht, persönliche Gedanken und Erlebnisse aller Berliner. Rund 11000 Einsendungen kamen zusammen (70 Prozent davon aus dem Ostteil!). 146 davon wurden im Sommer 1990 in einer Anthologie des Bertelsmann Verlages mit dem Titel „Denk ich an Deutschland“ abgedruckt. Meiner war dabei, es war eine meiner allerersten Veröffentlichungen. Aus gegebenem Anlaß habe ich sie noch einmal ans Licht geholt. Ich war versucht, den Text zu editieren, da ich ihn heute anders schreiben würde. Aber dann habe ich die Originalfassung doch genau so belassen, wie ich sie damals, mit fünfundzwanzig zu Papier gebracht habe:

Berliner Notiz, November 1989
© Patricia Koelle

Es war jener Herbst, in dem die Narzissen zum zweiten Mal im gleichen Jahr blühten und es so sanft und lange warm war, dass auch andere Knospen, von denen das niemand erwartet hätte, noch aufblühten. Die einen werteten das als Folge des Ozonlochs, die anderen hatten das Gefühl, es sei ein wundersames und versöhnliches Zeichen des Unglaublichen, das in diesen Tagen geschah. Manche dachten beides auf einmal, und es erschien ihnen nicht widersprüchlich.
Es war der Abend, an dem die Fischstäbchen anbrannten und ich verwirrt mit dem Küchenmesser in der Hand zur Tür ging und den Nachbarn erschreckte, weil ich mitten im Tomaten schneiden begriffen hatte, dass auf der Mauer Menschen saßen und nichts mehr so umzingelnd eng war wie gestern noch. Der Abend, an dem Großvater drei Äpfel hintereinander aß, ohne es zu merken, und erst eine Stunde nach zehn ins Bett ging, was seit der ersten Mondlandung nicht mehr vorgekommen war. Der Abend, an dem man nicht mehr so unbekümmert zwischen den Fernsehkanälen hin und her schaltete, aus Angst, eine wichtige Sekunde zu versäumen. Der Abend, an dem so etwas wie der alte Kindertraum von einem Zwilling erfüllt wurde: jemanden zu haben, der einem ähnlich, aber doch genügend anders ist, um Freund und Gesprächspartner zu sein. Plötzlich gab es noch ein zweites Deutschland.
Es waren die Tage, an denen es keinen einzigen freien Parkplatz mehr gab, dafür viele hinzuerfundene, und an denen statt Strafzetteln frische Bananen hinter die Scheibenwischer geklemmt wurden. Die Tage, an denen Menschen jeden Alters an der Ampel standen und Orangen aus der Tüte aßen: Früchte, die plötzlich neu und erstaunlich auch für diejenigen aussahen und rochen, die sie schon lange kaufen konnten und eigentlich achtlos vorbeifuhren, um dann doch zu halten und zu winken.
Es waren die Tage, an welchen niemand schimpfte über die ungläubigen Menschentrauben, die jeden Weg verstopften und die Straßen noch dazu, obwohl man diese Menschen mit ihren Anfragen und Wünschen nicht gewöhnt war, weil so lange und so massiv getrennt davon. Die Tage, an denen in den Staus an der Grenze statt ärgerlichem Anhupen überraschte Freundschaften entstanden. Die Tage, in denen die Taxifahrer Überstunden machten und ihr eigenes Lächeln nicht fassen konnten, dass sich durch keine Müdigkeit wegwischen ließ. Sie erzählten von verheulten Mädchen, die sie am Checkpoint Charlie aufgelesen hatten und denen sie versprachen, sie an dieses oder jenes nie gekannte Ende der Stadt zu fahren: Wo Mama wohnt, sie zahlt ganz bestimmt! – und wenn sie es nicht tat, störte es auch niemanden.
Da war auch die verlegene Zärtlichkeit, mit der die gleichen Taxifahrer langsam fuhren und sagten : Diese stinkenden Wartburgs werden wir jetzt wohl öfter vor uns haben.
Von diesen Taxifahrern unterschieden sich so wenige von uns an diesem Tag. Einer in der U-Bahn, der kaum atmen konnte vor fassungslosem Gedränge, flüsterte staunend: sieh doch nur, dieses bestimmte ungläubig glückliche Lächeln, das die Menschen auf den Gesichtern haben, alle!
Statt dem Lächeln hatte der Fernsehmoderator einen Bruch in der Stimme, dessen er sich nicht schämte: Er hatte den Bau der Mauer miterlebt und dann alles, was zwischen jenem Tag und dem heutigen in und um den Grenzstreifen so unverrückbar eingeklemmt war an Angst und Sehnsucht. All die Geschichten, die er verloren hatte unter seiner Neutralität, die nötig war für seinen Alltag! Sein Warten hatte graue Haare und achtundzwanzig Jahre gedauert, und all das, was er unter professioneller Sachlichkeit zu verstecken gelernt hatte, tauchte angesichts der neuen Betonlücken und des allgemeinen Glücks so völlig verletzlich wieder auf, und er war tief erstaunt und gründlich froh, das wiederzusehen,
Der Himmel über Berlin war stahlblau und warf überraschendes Licht in die Gesichter. Man sah das Erstaunen in ihnen dadurch um so deutlicher. Dass das Wetter so himmelblaugolden strahlte erschien auch den Nüchternsten im Geheimen als Fingerzeig und Gottesgeschenk: Man konnte über soviel scheinbar Unerhebliches ergriffen sein dieser Tage, weil soviel neu möglich erschien, und das allzu genaue Nachfragen ließ man in stillschweigender Übereinkunft sein. Es waren genug der Tatsachen, die unanzweifelbar und sehr lebendig da und zu feiern waren. Dazu noch an allen Ecken die Leierkastenmusik in den Hintergrund der Stimmung drapiert: mit ostwestgemeinsam altvertrauten Tönen und ebenso stotternd-ungläubig und schnell-euphorisch wie die Gedanken der dicht Vorüberflanierenden, die das langersehnte Neuentdecken zeitweilig über dem verträumten Nachlauschen vergaßen. Der Drehrythmus der abgenutzten walzen war ebenso ungewohnt und sympathisch durcheinandergeraten wie die Grammatik des Nachrichtensprechers, dessen Ringe unter den Augen von der besten Westschminke nicht übertönt werden konnten. Mit der gleichen Bereitwilligkeit und dem angestauten Aufatmen, mit denen er seinen Schlaf geopfert hatte, half man sich, Stereoanlagen in Trabikofferräumen zu verstauen, sich an Hindernissen vorbeizuwinken oder einen verknickten Stadtplan wieder und wieder zu erklären.
Es waren die Tage, in denen der sonst sehr schweigsame Klempner eine Wasserleitung im verkehrten Winkel einbaute, so dass sie ins Nichts führte, weil er mit seinen Erlebnissen nicht zu Rande kam: dass im Supermarkt eine junge Frau angesichts des Warenangebots still in die Ecke gegangen war und geweint hatte, und dass sein unbekannter Neffe vor seiner Haustür aufgetaucht war, mitten in der Nacht – dieser Nacht, die in Berlin keine Nacht war, sondern eher eine Morgendämmerung.
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Mehr Mauergeschichten gibt es hier:
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Mauerfallgedanken

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Manche trauern der DDR nach in diesen Tagen, steht in der Presse.
Nun, ich nicht. Ich darf heute zu einer Lesung fahren. In den Osten. Das wäre früher nicht gegangen. Das Buch, aus dem gelesen wird, haben wir gemacht – eine Freundin und Kollegin die im Osten Berlins aufwuchs und ich, aus dem Westteil. Ohne den Mauerfall hätten wir uns nie kennengelernt. Ohne den Mauerfall hätten wir diese Texte nicht sammeln können. Sie wären nie geschrieben worden, von Autoren aus Ost und West gleichermaßen. Das ist kein Buch für oder gegen den Osten oder den Westen oder die Wiedervereinigung. Das ist ein Buch für alle in oder aus Deutschland. Es erzählt vom Leben mit und nach der Mauer, von den irren Tagen der Veränderungen. Es hat uns sehr viel bedeutet, dieses Buch machen zu dürfen, diese kleinen Mosaiksteinchen festzuhalten, lebendig zu erhalten.
An dieser Stelle ist auch ein Dank an den Dr. Ronald Henss Verlag fällig.
Übrigens habe ich auch unseren Jahresurlaub gerade gebucht. Im Osten. In Mecklenburg-Vorpommern, einem Land, das früher nur ein Märchen war für ein Westberliner Kind.
Für mich ist das was Großes – 20 Jahre Mauerfall! Wahnsinn, um das Wort der Wendetage wieder einmal zu gebrauchen.

Lesetermin am 30.10.2009 ist im Kultur- Cafe Sibylle, Berlin Friedrichshain

Beginn ist 20 Uhr
Ort:
10243 Berlin
Friedrichshain /Kreuzberg
Karl-Marx-Allee 72
Tel. +49 (0)30 29 35 22 03 |

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Mauergeschichten-Lesungen!

Am 27.10.2009

Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus e.V.

Nikolaikirchplatz 5 -7
10178 Berlin ( Nikolaiviertel )
Tel.: +49 / 30 / 283 43 27
Fax: +49 / 30 / 280 97 193
E-mail: th.dahnert@gedenkbibliothek.de
Dienstag, 27.Oktober 2009, 19 Uhr

Dr. Tengis Khachapuridse, Schriftsteller aus Georgien, schildert seine Erlebnisse vor und nach dem Fall der Mauer unter dem Titel: „Zwei Steine“
Bettina Buske, (Ost)Berliner Autorin und Rezitatorin, berichtet in ihrer Erzählung: „Ist ja wirklich so!“ mit leichtem Augenzwinkern über erste Erkundungen und Erlebnisse in Westberlin und den Schwierigkeiten der Annäherung. Die Geschichten sind erschienen im Buch Mauerstücke – Erinnerungsgeschichten, herausgegeben von Bettina Buske und Patricia Koelle. Zwei von siebenundzwanzig Geschichten zur Erinnerung an die Berliner Mauer und die deutsch-deutsche Grenze, die das Land von 1961 bis 1989 in zwei feindliche Lager teilten und bis heute – 20 Jahre danach – tiefe Wunden hinterlassen haben. Autoren aus Ost und West haben ihre Erinnerungen, Erlebnisse und Erfahrungen in Geschichten geformt. Autoren, die sich noch an den Bau der Mauer im Jahre 1961 erinnern können, und Autoren, die noch Kind waren, als im Jahre 1989 die Mauer fiel. Die in der DDR aufgewachsen sind, und solchen, die gelernt haben, „DDR“ stets nur in Anführungszeichen zu schreiben.

Am 30.10.2009 um 20 Uhr

Große Autorenlesung aus der Anthologie
Mauerstücke-Erinnerungsgeschichten

Kultur- Cafe Sibylle, Berlin Friedrichshain

Beginn ist 20 Uhr
Ort:
10243 Berlin
Friedrichshain /Kreuzberg
Karl-Marx-Allee 72
Tel. +49 (0)30 29 35 22 03 |
mail: cafesibylle@u-s-e.org

bisher haben 8 Autoren ihre Teilnahme zugesagt – wird bestimmt eine tolle Veranstaltung werden.

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Feiern und Lesen

Zum 3. Oktober fand eine begeisterte Feier in Berlin statt. Doch es sind nicht nur die „riesigen“ Dinge, die Eindruck machen. Feiern ist gut und angemessen, aber auch die leisen, lebendigen Erinnerungen dürfen nicht vergessen werden. Sie sind es, die das Geschehen rund um die Mauer, den Mauerfall und die Wiedervereinigung erst wirklich deutlich machen. Nun, da die Feier vorbei ist, der 20. Jahrestag des Mauerfalls sich nähert und die langen Abende kommen, die Zeit zum Lesen bieten, könnte man sich den echten Geschichten widmen. Und wer diesem Jahrestag gerecht werden will, könnte bei Besuchen seinen Gastgebern statt eines Blumenstraußes auch einfach mal ein Buch mitbringen, das auch gleich für Gesprächsstoff sorgt.

Aus: „Zettelwirtschaft“ von Thomas Stefan
(Die Erzählung „Zettelwirtschaft“ gewann den ersten Preis beim Wettbewerb „Mauerstücke – Erinnerungsgeschichten“)

„…….Masur ordnete an, Specht ständig mit Klebezetteln zu versorgen, und der schrieb und schrieb, den ganzen Tag, und die Wände füllten sich. Eine ungeheure Flut von Begriffen, großen und kleinen Ereignissen, brach sich Bahn, und die Jahre seit jenem unsäglichen 13. August 1961 erschienen wieder. Eine Begriffswelt, die man jetzt schon wieder bereit war, zu vergessen, wurde akribisch dokumentiert.

Jeden Tag berichtete Klara Masur stolz vom „Bau der Mauer“, zählte die schon etwas fernen und zeitlich immer näher rückenden Ereignisse auf, die diesen Staat gefüllt hatten. Diese besondere Terminologie eines eingesperrten Volkes stand wie ein Menetekel an der Wand und drückte spürbar gegen eine Mauer, die einst unüberwindbar schien.

Eines Tage klopft sie am Masurs Tür und machte einen ratlosen Eindruck.

„Herr Oberarzt, ich hab was ganz komisches bemerkt, bei unserem Specht. Darauf kommt man ja gar nicht.“

Masur sah sie erwartungsvoll an.

Sie schluckte verlegen, hielt einen gelben Klebezettel in der Hand. „Heute hab ich mir seine neuen Sachen angeschaut, Olympiade 1972 war dran. Roland Matthes und all die anderen, und natürlich unser Frank Schöbel. Der hat ja bei der Eröffnung gesungen.“ Ihre Augen leuchteten.

„Ja und?“, fragte sie Masur ungeduldig.

Klara hielt den Zettel hoch. „Einer davon war von der Wand gefallen, klebte wohl nicht so gut. Drauf stand Renate Stecher, unser Sprint-As. Und was soll ich Ihnen sagen, da stand auch auf der Rückseite was drauf.“

„Was sagen Sie da?“, fragte Masur perplex.

„Ja, so ein komischer Name, habe ich noch nie gehört: Heide Rosendahl. Und dann hab ich vorsichtig hinter die anderen Zettel geschaut, da steht ja überall was drauf. Der Mann wird mir immer unheimlicher, der Specht.“

Im Laufschritt eilten sie zu Spechts Zimmer. Vorsichtig hob Masur einige Notizen an, und tatsächlich fand sich auf jeder Rückseite eine Beschriftung. Doch hier wurde eine ganz andere Welt beschrieben. Gespannt hob er einen Zettel nach dem anderen, und ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.

„Na Masur, wie geht es voran mit unserem kleinen Chronisten. Ich bin ja skeptisch, ob ihm diese eigentümliche Schreibtherapie hilft, ich denke ja eher an was Handfestes. Aber ich lasse Sie erst mal gewähren,“ dröhnte Professor Fischer, der fast unbemerkt Spechts Zimmer betreten hatte. Er besah sich spöttisch lächelnd die mit Notizen übersäte Wand. „Wenn das tatsächlich die Mauer sein soll, dann weiß man, dass man in dieser Welt wirklich verrückt werden konnte.“

Masur schwoll sichtlich der Kamm.
„Wie man hier deutlich sehen kann, hat eine Mauer hat immer zwei Seiten, Herr Professor. Sie haben all die Jahre nur auf ihre Seite gestarrt, und vieles wirkt von drüben so unverständlich wie Chinesisch. Die Mauer war für beide Seiten Schutz vor dem Fremden, aber reflektierte auch die eigene Beschränktheit. Jetzt ist sie weg, und nun fluten die Begriffe ungehindert in alle Richtungen. Man könnte es eine babylonische Sprachverwirrung nennen. Und damit haben nicht nur die Menschen im Osten ihre Schwierigkeiten.“

Klara hielt die Luft an. Fischer schaute etwas irritiert, ging dann wortlos….“

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Jahrestag eines modernen Wunders

Am 9. November jährt sich ein Wunder – das Wunder, dass die Mauer fiel, und zwar friedlich. Weil die Menschen es so wollten. Wer zu jung ist, um sich zu erinnern, oder wer diese Tage schon fast wieder vergessen hat, kann in dem Buch „Mauerstücke – Erinnerungsgeschichten“ davon lesen, wie es war. Wie das Leben mit und nach der Mauer war und während jener unglaublichen Tage im Herbst 1989. Menschen aus Ost und West erzählen hier spannende Geschichten, keine trockenen historischen Fakten.

Leseprobe aus: „Die Mauer meines Vaters“ von René Schuhr
„….Die Arbeitszeiten meines Vaters wurden zunehmend unregelmäßiger. Immer öfter blieb er nun daheim und bemühte sich gemeinsam mit meiner Mutter, mir so etwas wie einen geregelten Alltag zu bieten. Ungewöhnlicher konnte diese Zeit dennoch nicht für mich sein, saß mein Vater doch bereits am Mittagstisch, als ich aus der Schule nach Hause kam. Als wir gemeinsam am Speisen waren, dröhnte von draußen der Lärm durch das geöffnete Fenster in unser Esszimmer. Erst leise, dann immer lauter erklang der skandierende Wir-sind-das-Volk-Stasi-raus-Protestzug. Sofort sperrte ich meine Lauscher auf, mein Vater hingegen verzog die Miene, worauf hin meine Mutter ihn mitleidig anschaute. Dann stand er auf, ging zum Fenster und schloss es. Anschließend zog er die Gardinen zu. Und als die lauten Rufe des Protestzuges nur noch gedämpft zu mir durchdrangen, war es an der Zeit selbst die Stimme zu erheben und ich fragte meinen Vater, was los wäre und was wir tun sollten? Mein Vater verharrte einen Augenblick auf dem Rückweg zum Mittagstisch, kehrte wieder um und stellte sich zurück ans Fenster, um dem Protestzug nach zu schauen. Dann sagte er, die da draußen wären alle gute Menschen, die für die Dinge, die andere ihnen versprochen hätten, kämpfen wollten. Hauptsache, führte er fort, würde auf ´53 und ´68 nicht auch noch ´89 folgen. Das dürfe nicht passieren.
Erst sprach mein Vater nur das Nötigste mit mir und dann stieß er mich mit der Nase drauf. Ich konnte diese Jahreszahlen ganz gut einordnen und obwohl die systemtreuen Lehrer mit den systemtreuen Schulbüchern etwas anderes über diese Jahre vorgaukeln wollten, wusste ich dennoch, was mein Vater gemeint hatte.
Mein Vater ging jetzt gar nicht mehr zur Arbeit. Er saß meistens am Esszimmertisch und verrichtete so unsinnige Dinge wie Geschirr polieren oder Knöpfe annähen. Die Bürger der DDR zogen weiterhin an unserem Haus vorbei und waren dabei mal lauter und mal leiser, aber geschwiegen haben sie nie. Und Vater schloss das Fenster dann immer, aber ein ums andere Mal verharrte er länger im Schutz der geschlossenen Gardine und beobachtete die Menschenmassen. An den folgenden Tagen öffnete er die Gardinen mehr und mehr. Es hatte etwas meditatives ihn minutenlang dort verharren zu sehen, wie er die Protestzüge beobachtete, ja fast studierte.
Wieder einmal saßen wir beim Essen, beim Abendbrot, als erneut der Protestzug an unserem Haus vorbei zog. Aber diesmal war es anders. Mein Vater, von Erschöpfung gezeichnet, hatte er doch stark abgenommen und schien körperlich, aber auch seelisch ausgezerrt zu sein, schritt nicht zum Fenster, um die Realität erneut auszusperren…“

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Erinnern im Herbst

Die Sommerferien sind vorbei, der Alltag kehrt zurück. Die Abende werden länger. Es gibt wieder Zeit zum Lesen, Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Erinnern. Herbst ist eine gute Zeit, sich zu erinnern, und dieser Herbst ist ein Besonderer, denn der Mauerfall jährt sich zum zwanzigsten Mal.
In dem Buch „Mauerstücke“ haben wir versucht, einige der Erinnerungen einzufangen um ein Bild zu malen für die, die sich erinnern wollen und die, die noch zu jung waren und etwas erfahren wollen: wie das Leben war, damals.
Viele Autoren aus Ost und West haben Puzzlestücke zusammengetragen, keine trockenen Zahlen, keine Fakten, sondern Geschichten.

Hier eine Leseprobe:

Der Eisverkäufer

Christiane Schlenzig

Es ist Markttag. Ein Sommertag Ende August. Der Tag hat die Stadt mit Sonne überschüttet. Auf dem Platz vor dem Rathaus herrscht reges Treiben.
Ich bin keine Marktgängerin.
Heute bin ich hier, um meinem Besuch aus dem Westen unsere Stadt zu zeigen. Die schöne Altstadt. Ich liebe unsere Stadt. Die alten Gassen, die Stadtmauer, die Türme, den Dom.
Eigentlich wollen sie gar keine „alten Gemäuer“ sehen, Inge und Peter. Sie wollen uns einfach nur besuchen. Schließlich haben sich auch für sie die Grenzen geöffnet! Inge ist meine Cousine aus dem Westen. Ein erster Besuch nach dreißig Jahren. Wir sind uns fremd und diese Fremdheit macht mich beklommen, unsicher – auch angreifbar. Wollen sie uns wirklich kennen lernen? Oder einfach bloß mal hinter die durchlässig gewordene Mauer gucken?
Neugierde? Ich glaube, sie haben so viel gehört über uns und suchen jetzt die wahre Geschichte dazu.
Ich versuche, meine Unsicherheit mit einem Wortsprudel aus Geschichtszahlen und Architektur zu überspielen: „Das Rathaus mit der großen Sonnenuhr aus dem 17.Jahrhundert…“ Eine ältere Frau mit einem dickgefüllten Einkaufsbeutel stürzt an mir vorbei und schubst mich zur Seite: „Müssen Sie denn hier im Weg herumstehen? Sie sehen doch, was los ist!“ Erst jetzt merke ich, dass meine Gäste unkonzentriert sind. Die Worte, die aus meinem Mund schießen wollen, lasse ich zwischen den Rathauswänden in der Luft. Wir gehen hinüber auf die andere Seite. Jetzt sehen wir das Markttreiben wie auf einer Bühne – Panoramablick.
Einheimische Händler, Bauern aus den umliegenden Dörfern bieten aus eigenem Anbau ihr Gemüse an – Gurken und Tomaten.
Ein Obststand – Äpfel und Birnen.
Der Besitzer eines himmelblauen Trabants hat seinen Kofferraum zum Gemüsestand umfunktioniert. Unter seiner hochgeklappten Hecktür bietet er Zwiebeln an. Liebevoll sortiert nach Größen, daneben auf einem kleinen Hocker seine Geldkassette und ein handgeschriebenes Schildchen: Das Kilo zwei Mark.
Niemand nimmt Notiz davon.
„Wie bei einem Spiel – es ist aus, der Einsatz ist verbraucht“, denke ich.
Mein Rathaus verschwindet hinter einer eingewanderten riesengroßen, gelbgolden leuchtenden Banane, die in den blauen Himmel ragt. Aufgeblasen, stolz.. Sie bläht sich neben den aufeinander gestapelten Bananenkisten.
Traum eines jeden Ostdeutschen? Denkt man im Westen so?……

weiter geht es in:
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Widmung

Ich möchte hier gern unsere Widmung aus dem Buch „Mauerstücke – Erinnerungsgeschichten“ zitieren, damit deutlich wird, warum uns so sehr daran gelegen war, dieses Buch möglich zu machen – und warum wir uns sehr wünschen, dass es die Menschen erreicht, für die es geschrieben wurde.

Unsere Widmung aus dem Buch:
Dieses Buch ist allen gewidmet, die daran glaubten, dass die deutsche Teilung als Folge des 2. Weltkrieges eines Tages überwunden sein würde. Allen, die mit und trotz der Mauer gelebt haben, allen, die wegen der Mauer eine Liebe, eine Freundschaft, einen Teil der Familie, ihre Freiheit oder sogar ihr Leben verloren, und allen, die sie am Ende friedlich zum Einsturz brachten. Ebenso jenen, die nachfolgenden Generationen von dem Leben mit der Mauer erzählen und damit Unbegreifliches begreifbar machen und vor dem Vergessen bewahren wollen.
Betina Buske und Patricia Koelle, Berlin 2009

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Mehr über das „Mauerstücke“-Buch

Mehr über das Buch „Mauerstücke“ und einen Auszug aus dem Geleitwort von André Schmitz (Staatssekretär für Kultur beim regierenden Bürgermeister von Berlin) sowie einen Pressetext zum Ausdrucken und Weitergeben findet man auch hier.
Das Buch eignet sich auch als Material für lebendigen Unterricht.

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