Zum 3. Oktober fand eine begeisterte Feier in Berlin statt. Doch es sind nicht nur die „riesigen“ Dinge, die Eindruck machen. Feiern ist gut und angemessen, aber auch die leisen, lebendigen Erinnerungen dürfen nicht vergessen werden. Sie sind es, die das Geschehen rund um die Mauer, den Mauerfall und die Wiedervereinigung erst wirklich deutlich machen. Nun, da die Feier vorbei ist, der 20. Jahrestag des Mauerfalls sich nähert und die langen Abende kommen, die Zeit zum Lesen bieten, könnte man sich den echten Geschichten widmen. Und wer diesem Jahrestag gerecht werden will, könnte bei Besuchen seinen Gastgebern statt eines Blumenstraußes auch einfach mal ein Buch mitbringen, das auch gleich für Gesprächsstoff sorgt.
Aus: „Zettelwirtschaft“ von Thomas Stefan
(Die Erzählung „Zettelwirtschaft“ gewann den ersten Preis beim Wettbewerb „Mauerstücke – Erinnerungsgeschichten“)
„…….Masur ordnete an, Specht ständig mit Klebezetteln zu versorgen, und der schrieb und schrieb, den ganzen Tag, und die Wände füllten sich. Eine ungeheure Flut von Begriffen, großen und kleinen Ereignissen, brach sich Bahn, und die Jahre seit jenem unsäglichen 13. August 1961 erschienen wieder. Eine Begriffswelt, die man jetzt schon wieder bereit war, zu vergessen, wurde akribisch dokumentiert.
Jeden Tag berichtete Klara Masur stolz vom „Bau der Mauer“, zählte die schon etwas fernen und zeitlich immer näher rückenden Ereignisse auf, die diesen Staat gefüllt hatten. Diese besondere Terminologie eines eingesperrten Volkes stand wie ein Menetekel an der Wand und drückte spürbar gegen eine Mauer, die einst unüberwindbar schien.
Eines Tage klopft sie am Masurs Tür und machte einen ratlosen Eindruck.
„Herr Oberarzt, ich hab was ganz komisches bemerkt, bei unserem Specht. Darauf kommt man ja gar nicht.“
Masur sah sie erwartungsvoll an.
Sie schluckte verlegen, hielt einen gelben Klebezettel in der Hand. „Heute hab ich mir seine neuen Sachen angeschaut, Olympiade 1972 war dran. Roland Matthes und all die anderen, und natürlich unser Frank Schöbel. Der hat ja bei der Eröffnung gesungen.“ Ihre Augen leuchteten.
„Ja und?“, fragte sie Masur ungeduldig.
Klara hielt den Zettel hoch. „Einer davon war von der Wand gefallen, klebte wohl nicht so gut. Drauf stand Renate Stecher, unser Sprint-As. Und was soll ich Ihnen sagen, da stand auch auf der Rückseite was drauf.“
„Was sagen Sie da?“, fragte Masur perplex.
„Ja, so ein komischer Name, habe ich noch nie gehört: Heide Rosendahl. Und dann hab ich vorsichtig hinter die anderen Zettel geschaut, da steht ja überall was drauf. Der Mann wird mir immer unheimlicher, der Specht.“
Im Laufschritt eilten sie zu Spechts Zimmer. Vorsichtig hob Masur einige Notizen an, und tatsächlich fand sich auf jeder Rückseite eine Beschriftung. Doch hier wurde eine ganz andere Welt beschrieben. Gespannt hob er einen Zettel nach dem anderen, und ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Na Masur, wie geht es voran mit unserem kleinen Chronisten. Ich bin ja skeptisch, ob ihm diese eigentümliche Schreibtherapie hilft, ich denke ja eher an was Handfestes. Aber ich lasse Sie erst mal gewähren,“ dröhnte Professor Fischer, der fast unbemerkt Spechts Zimmer betreten hatte. Er besah sich spöttisch lächelnd die mit Notizen übersäte Wand. „Wenn das tatsächlich die Mauer sein soll, dann weiß man, dass man in dieser Welt wirklich verrückt werden konnte.“
Masur schwoll sichtlich der Kamm.
„Wie man hier deutlich sehen kann, hat eine Mauer hat immer zwei Seiten, Herr Professor. Sie haben all die Jahre nur auf ihre Seite gestarrt, und vieles wirkt von drüben so unverständlich wie Chinesisch. Die Mauer war für beide Seiten Schutz vor dem Fremden, aber reflektierte auch die eigene Beschränktheit. Jetzt ist sie weg, und nun fluten die Begriffe ungehindert in alle Richtungen. Man könnte es eine babylonische Sprachverwirrung nennen. Und damit haben nicht nur die Menschen im Osten ihre Schwierigkeiten.“
Klara hielt die Luft an. Fischer schaute etwas irritiert, ging dann wortlos….“

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