Wie man Weihnachten baut

Wenn ich heute zurückdenke sind es nie die Weihnachtsgeschenke, an die ich mich zuerst erinnere. Es sind die Dinge, die wir als Familie gemacht haben: Schneemann bauen, Strohsterne basteln, und vor allem: das Hexenhaus backen!
Das war jedes Jahr ein Höhepunkt, ohne den Weihnachten undenkbar gewesen wäre. Mit den Lebkuchenhäusern, die man heute in Folie eingeschweißt und lieblos zusammengepappt in Massen beim Bäcker kaufen kann oder im Supermarkt, hatte das nichts zu tun. Es war ein Gemeinschaftsprojekt, zu dem jeder etwas beisteuerte. Es wurde gelacht, diskutiert und eine glorreiche, klebrige und wohlschmeckende Unordnung entstand – und am Ende ein Kunstwerk. Es existieren nur noch Schwarzweißfotos, aber in der Erinnerung schmecke und rieche ich den Lebkuchenteig und sehe die fröhlichbunten Plätzchen, die mit Zuckerguss darauf geklebt wurden.

Hexenhäuschen

Jedem Kind wünsche ich eine solche Weihnachtserinnerung. Meine Schwester baut noch heute mit ihren inzwischen längst erwachsenen Kindern solche Häuschen für Freunde und Familie.
In meiner Geschichte „Die Hexenhausfrage“ habe ich genau beschrieben, wie das damals war, wenn es sich auch in der Geschichte um eine andere Familie handelt.
Das Rezept für den Teig ist auch enthalten. Vielleicht hat ja der eine oder andere Lust, seiner Familie einen Nachmittag und eine Erinnerung zu schenken. Denn Hexenhäuschen zum Naschen sind ein zeitloses Vergnügen und es macht gar nichts, dass sie keinem Akku brauchen und keine Knöpfe zum drücken haben.

Hexenhaus2

Auszug aus: „Die Hexenhausfrage“
© Patricia Koelle

„…Denn früher, seit er sich erinnern konnte, hatten sie zuhause um diese Zeit das Hexenhaus gebacken. Was heißt gebacken: gestaltet. Nein – erschaffen! Es war ein Familienprojekt gewesen, eine Sache, auf die man sich verlassen konnte, eine Herausforderung, sich jedes Weihnachten neu zu übertreffen. Die Familie mochte das Jahr über in verschiedene Himmelsrichtungen verstreut sein, aber zum Hexenhaus basteln kamen sie unweigerlich zusammen; keiner, der das freiwillig versäumt hätte. Opa war sogar einmal mit einer neuen Hüftprothese vorzeitig aus der Klinik verschwunden, nur um dabei zu sein, und Onkel Daniel hatte eine gut bezahlte Vortragsreise abgekürzt. Natürlich lockte auch die Gelegenheit, von einer Unmenge Leckereien zu naschen, aber das allein war es nicht. An so einem vorweihnachtlichen Hexenhausbacktag lag ein Zauber über der Küche, dem sich keiner entziehen konnte.
Den Lebkuchenteig konnte man schon tagelang vorher zubereiten, er hielt sich ewig. Das Rezept bewahrte Kais Mutter in einer hölzernen Zigarrenkiste auf, die mehrere geerbte Familienrezepte beherbergte. Es war um 1870 von Urgroßmutter Marie Erfurth aufgeschrieben worden, kurz und bündig, aber in der schnörkeligen alten Schrift, die Kai erst spät zu entziffern lernte und die die Sache umso geheimnisvoller machte. Als er die verblassten Worte schließlich lesen konnte, war er es, der von der Ofenbank her seiner Mutter mit wichtiger Stimme vorlas, während sie mit konzentrierter Miene die duftenden Zutaten in der großen Steingutschüssel mischte:
„Man nehme 1250 g Mehl, 125 g Butter, je 6 g gemahlenen Cardamom, Nelken, Zimt, Ingwer und Pottasche, 1000 g Sirup und 250 g Zucker.
Der Zucker wird mit dem Sirup aufgekocht, dadurch aufgelöst, dann abgekühlt. Butter und Gewürze dazu, die in Rosenwasser aufgelöste Pottasche hineingetan und der Teig gut geknetet. Wenn es soweit ist, 1-1/2 Zentimeter dick ausrollen, bei 200 Grad etwa 25 Minuten backen und noch warm die Stücke für das Hexenhaus schneiden. Oder vor dem Backen ausstechen zu runden Pfeffernüssen oder rechteckigen Lebkuchen, die man nach dem Backen glasiert und mit Mandeln und Zuckerguss verziert.“
Kai fand das Wort „Pottasche“ erschreckend hässlich und war fasziniert davon, dass es in einem Satz mit dem wunderbaren Wort „Rosenwasser“ genannt wurde, das duftend und bunt den Sommer heraufbeschwor.
Es war nie wirklich nötig, allen Bescheid zu sagen, wann das Hexenhaus gemacht wurde. Irgendwie trudelten sie immer ein, sobald der Teig im Ofen war, so als könnten sie es in der ganzen Stadt riechen. Wenn Mutter das Blech aus dem Ofen zog, war Oma an der Reihe, die Schneiderin gewesen war und keinem Schnittmuster widerstehen konnte. Der Schnitt war aus brüchig gewordenem Pergamentpapier. Er ruhte säuberlich zusammengefaltet ebenfalls in der Zigarrenkiste und erinnerte Kai stets an eine Schatzkarte. Mit solchem Respekt wurde das Papier auch gehandhabt. Es wurde auf den noch warmen Teig gelegt und dann behutsam drumherum geschnitten: die beiden Seitenmauern, die Giebelwände und die beiden Dachhälften. Wenn man die Stücke nicht sofort zuschnitt, krümelte der Teig zu sehr. Was übrig blieb, durfte genascht werden, bis auf einige Teile, die als Zaunpfähle, Schornstein und Fensterläden gebraucht wurden. Spätestens dann waren alle in der Küche versammelt. Nicht nur zwei Opas und die Oma, auch Onkel Daniel, Tante Lotte und natürlich Kais Schwestern sondern auch zwei bis drei erwachsene Cousins und Cousinen. Beim Hexenhausmachen lösten sich schwelende und halbvergessene Meinungsverschiedenheiten in hitzigen Diskussionen über Zuckergussbeschaffenheit und die Verträglichkeit von Ingwer mit Marzipan auf oder fielen einfach unter den Tisch. Das hatte den Vorteil, dass vom Hexenhausbacktag bis einschließlich Weihnachten einträchtiger Friede herrschte und in dieser Zeit niemandem seine Frisur oder seine Lebenseinstellung vorgeworfen wurde.
Das Haus richteten sie auf einem mit Aluminiumfolie ausgelegten Backblech auf, das genug Platz für einen großzügig angelegten Hexenhausgarten bot. Dieser wurde mit Pfählen aus Pfefferkuchen eingezäunt, zwischen welchen in Zucker getauchte und dadurch wie mit Raureif bedeckte Schnüre gespannt wurden. In anderen Jahren war es ein Jägerzaun aus feinen Waffeln oder Schokoladenstäbchen. Die Wände und das Dach wurden mit Zuckerguss zusammengeklebt; wenn es einmal gar nicht halten wollte, konnte man die Teile auch mit Hilfe von Zahnstochern zusammenstecken. Doch die Ehre verlangte eigentlich, bis auf einige Figuren keine nicht essbaren Teile zu verwenden. Darum wurden die Fensterscheiben aus durchsichtigen Blättern roter Gelatine geschnitten. Der Gartenteich bestand aus einer Pfütze blauen Zuckergusses, auf dem eine Scheibe weißer Gelatine dafür sorgte, dass er zugefroren wirkte und die Marzipanenten darauf sich ärgerten, weil sie nicht schwimmen gehen konnten.
Die Dachziegel bestanden aus Keksen, Bobons und bunten Schokolinsen, die die tollsten Muster erlaubten. Jedes einzelne Stückchen wurde sorgfältig mit einem Tropfen Zuckerguss festgeklebt. Auf dem First neben dem Schornstein thronte nicht selten eine Marzipaneule oder auch ein Engel, der die Bösartigkeit der Hexe ein wenig aufwog. Diese Hexe, die auf einem mit Schokoplätzchen gepflasterten Gartenweg nach Hänsel und Gretel Ausschau hielt, war ebenso wie diese beiden aus Keramik und mindestens so alt wie das Lebkuchenrezept. Den Rest des Jahres ruhten sie verpackt auf dem Dachboden und während Kai klein war, dachte er auch im Sommer hin und wieder mit Unbehagen an die ausdauernde Nähe dieser Hexe. Auch in späteren Jahren konnte er sich nie mit ihr anfreunden. Wären die Eiszapfen, die so malerisch und reichlich von den Dachkanten herabhingen, nicht aus schneeweißem Zuckerguss gewesen, hätte die Hoffnung bestanden, dass einer von ihnen herab fiele und die Hexe erschlüge. So aber hatte sie schon über 100 Jahre und zwei Weltkriege überstanden und niemand wagte, an ihrer Gegenwart zu rühren. Sie blieb, wie um daran zu erinnern, dass kein Leben nur aus Kuchen und Zuckerguss besteht. Der Freude am Hexenhaus tat das keinen Abbruch, im Gegenteil, der böse Hexenblick sorgte für das freudig schlechte Gewissen, wenn man später, nach Heiligabend wenn das Haus zum Verzehr freigegeben war, immer wieder unter einem Vorwand ins Weihnachtszimmer lief um ein Stückchen davon zu naschen.
An der Hauswand lehnte natürlich auch der Ofen, mit einem Feuer aus Schokoladenstäbchen-Holzscheiten und Flammen aus den Resten der roten Gelatine. Obendrauf saß einige Jahre lang eine schwarze Katze aus Plastik, die auf rätselhafte Weise aufgetaucht war und irgendwann ebenso rätselhaft wieder verschwand; solange sie da war, bekam sie aber stets Rosinen- oder Marzipanmäuse zum Verfolgen. Hänsel und Gretel versteckten sich derweil in einem Wald aus Lutscherbäumen und Tannen, die aus Plätzchen aufgeschichtet und dick mit Puderzucker beschneit waren. – Ob es der Onkel war oder die Cousinen, immer brachte jeder irgendwelche zur Hausausschmückung geeigneten ausgefallenen Leckereien mit, so dass dieses jährlich ein sowohl traditionelles als auch neuartiges Gesicht bekam. So gab es einmal Holzbänke und einen Gartentisch aus Nougatwürfeln, ein andermal verzauberte Riesenpilze aus Fondant. Einmal hatte die Hexe sogar ein Buch mit Zaubersprüchen unter dem Arm, das aus Esspapier bestand und dessen Seiten tatsächlich mit Tinte aus Lebensmittelfarbe beschrieben waren.
Wenn das ganze Werk fertig war und die beschneite Landschaft festlich strahlte, die Tür des Häuschens einladend offen stand, jedes glänzende Bonbon seinen Platz gefunden hatte und der einmalige Duft aus Lebkuchen, Schokolade und Zucker wie unsichtbare Wolken um das beladene Blech hing, dann war es, als wäre das Gelächter der Erbauer in seine Wände eingemauert und fände seinen Weg in den Geschmack der einzelnen Brocken bis der allerletzte davon an Silvester verzehrt wurde wie ein Versprechen, dass auch im nächsten Jahr alles genau so sein würde…“