Wie Protagonisten so sind…

…saß plötzlich einer auf meinem Schreibtisch und baumelte mit den Beinen. Ich solle eine Geschichte über ihn schreiben, hier sei sie. Er hielt sie mir mit beiden Handflächen hin, eine runde, schimmernde kleine Idee, bescheiden aber hell, verlockend und fordernd. „Ich habe keine Zeit“, sagte ich, „Ich möchte Weihnachtsgeschichten übersetzen, das kann nicht ewig warten. Und ein halbfertiger Roman wartet auf Fertigstellung. Du bist nicht dran.“
Kalle Brennicke verschwand mit einem Schulterzucken von meinem Tisch, aber ich stellte bald fest, dass er nunmehr unverrückbar in meinen Gedanken saß und alle anderen Worte mit einer Art geheimnisvollen Rauschen störte.
Also fing ich an, seine Geschichte zu schreiben. Wer reinlesen will, kann das hier tun.
Man möge die Fehler verzeihen, die sich noch darin befinden, auch den Arbeitstitel, es ist nur eine erste Skizze, ein Anfang, ein Rohmanuskript.

Himmelangst

wittduen

Himmelangst (Leseprobe aus: Die Füße der Sterne)
(c) Patricia Koelle

Die Stadt schlief nur zum Teil, und der Himmel auch, denn die Stadt war so lebendig hell, dass es auf den Himmel abfärbte und er nie ganz das Licht verlor. Es war die letzte Augustnacht. Regina lief an den kleinen Dunkelheiten in den Hauseingängen vorbei zum Dienst. Dies war ihre liebste Jahreszeit, nicht weil heute ihr Geburtstag war, sondern wegen der Unruhe im Wind, dem ersten Aufflammen in den Blättern, und der feuchten Würze im Geruch der Straßen. Zwischen dem wachen Sommer und dem wehmütigen Herbst war die Stadt in ihrem verlockendsten Zustand, ähnlich wie die Steaks von Herberts Grill, voll rauchigen Aromas.
Ihr Ziel war der Flughafen. Oft sah es aus, als atme die Stadt die Flugzeuge aus der Luft herunter wie glänzende Fliegen und stieße sie Minuten später mit dem nächsten Atemzug nachdrücklich wieder aus, auf ihren weiteren Weg den Himmel entlang.
Auch Regina war auf diese Art in die Stadt gekommen. Früher einmal war sie Chemielaborantin gewesen, auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Stadt, in einem anderen Leben.
Jetzt putzte sie nachts auf dem Flughafen, wo sich die Menschen brisanter mischten als damals die Chemikalien in ihrem Labor.
„Hallo, Frido“, sagte sie zu dem Obdachlosen, der auf der Heizung neben dem Souvenirladen döste.
Frido öffnete ein Auge. „He, Regina.“
Regina fischte eine Tüte mit zwei Äpfeln und drei belegten Vollkornbrötchen aus ihrem neuen septembergelben Putzeimer, den sie sich zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatte eine Schwäche für Putzeimer und besaß für jeden Monat eine andere Farbe. Die grauen Eimer, die ihr die Firma stellte, fasste sie nicht an.
„Och, Gina“, sagte Frido. „Das is doch gesund!“
„Drum“ sagte Regina und ging weiter.
Jetzt, kurz vor Mitternacht, herrschte fast Ruhe auf dem Flughafen. Ins Ohr fiel vor allem das Summen der elektrischen Putzwagen, die herumfuhren. In die Warteräume kamen diese Wagen nicht. Hier war Regina zuständig.
„Hallo, Jungs“, begrüßte sie die Sicherheitsbeamten und stellte ihren Putzeimer mit den Lappen darin zum Durchleuchten auf das Fließband. „Heute muss ich aber wieder mal das hier mit reinnehmen.“ Sie hielt ein spitzes Messer und eine Flasche mit Lösungsmittel hoch, auf dessen Etikett ein Totenkopf und eine Flamme rot leuchteten.
„Mensch, Regina, wen willste denn ermorden?“ fragte einer der Beamten grinsend.
„Die Kaugummis auf dem Boden“, sagte Regina und hob die Arme zum Abtasten. Der Beamte fuhr mit seinem Gerät Reginas großzügigen Umriss ab. Nichts piepte.
„Dann geh du halt mit, Matthias“, sagte der Beamte und bedeutete einem jungen Kollegen mit einer Kopfbewegung, Regina in den Sicherheitsbereich zu folgen. „Weißt ja, es ist Vorschrift.“
Matthias trug seine Schüchternheit vor sich her, als könnte er damit gegen etwas stoßen, und seine Uniform war ihm noch so neu, dass sie unbehaglich an seinen langen Gliedern unterwegs war. Höflich brachte er Regina den Eimer hinterher. Während sie sich zwischen den Stuhlreihen auf den Knien niederließ und den Boden mit dem Messer bearbeitete, stand er daneben und ließ seinen Blick, als der sich auf ihrem geraden Scheitel zu langweilen begann, auf das Flugfeld wandern, wo die Lichter die Parkpositionen erhellten. Er fand den blauen Schein beruhigend…

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