
Ferne Heimkehr
© Patricia Koelle
Welcher mir am Ende wohlgesonnene Teufel ihn an diesem Abend ritt, werde ich wohl nie herausfinden. Seit fast zwanzig Jahren hatte ich Clemens kaum gesehen. Dann traf ich ihn auf einer Vernissage in Bennos Café. Ich war wie immer mit Kellnern beschäftigt, schmierte nebenbei Brötchen und erklärte zwischendurch den Gästen die Bilder von dem Künstler, der zwar gerade „in“ war, aber seine Werke selbst dem wißbegierigen Fachpublikum nicht verständlich machen konnte. Es war eigentlich nicht erstaunlich, dass Clemens hier auftauchte, er interessierte sich immer für Kunst. Verblüffend nur die Vertrautheit, die sofort zwischen uns aufblitzte, obwohl da nie was war außer dieser seltsamen Seelenverwandtschaft, einer ungewöhnlichen Freundschaft. Clemens war schließlich mein Astronomieprofessor gewesen. Ich kannte seine Frau, sie war reizend zu mir. Und darum war da außer einer gelegentlichen ziemlich kameradschaftlichen und schmetterlingsleichten Berührung bei der Arbeit eben nichts.
Clemens und ich hatten fast jeden Tag zusammen gearbeitet, hatten uns über Sternkarten gebeugt und durch Teleskope gespäht. Wir kannten unzählige Sterne beim Namen und irgendwie gehörten sie alle uns.
Damals war Astronomie noch romantischer und voller Ruhe, war Angeln im Weltall. Heute verbringt man kaum noch Nächte am Teleskop. Die Messungen erfolgen automatisch und ferngesteuert, man verlässt sich mehr auf elektromagnetische Signale als auf Beobachtungen, und ein Großteil der Daten kommt ohnehin aus dem Internet. Deshalb habe ich nach meinem Abschluss auch nicht mehr viel auf dem Gebiet gemacht. Mit Daten herumzurechnen ist nicht mein Ding, ich möchte den Sternen lauschen, einen stillen Dialog mit ihnen führen. Dazu brauche ich keine Statistiken.
Seit ich mit meinem Studium fertig war, waren Clemens und ich uns nur noch alle paar Jahre über den Weg gelaufen, auf Veranstaltungen wie dieser und gelegentlich auf der Sternwarte, ohne dass wir mehr als einige Worte gewechselt hatten. Ich lernte ohne ihn zu leben und zu lieben. Natürlich, seine Stirnfalten brachten mich immer noch durcheinander wenn ich ihn sah, seine sprunghafte, leichte Art, sich auf seiner Schuhgröße achtunddreißig zu bewegen und sich mit völliger Konzentration auf ein ihm neues Thema zu stürzen wie ein Fisch auf den Köder. Aber ganz bestimmt hatte ich nicht ahnen können, dass er sich diesmal beim Abschied plötzlich und ohne jede Vorwarnung nach vorne lehnen und mich küssen würde. Wir standen in der winzigen Garderobe und ich hatte gerade seinen abgeschabten Mantel unter den anderen hervorgefischt. Er überrumpelte mich völlig, sonst hätte ich mich rechtzeitig zur Seite gedreht. Denn ich wusste, was passieren würde. Vor einem Vierteljahrhundert hatte ich oft genug davon geträumt. Sein Kuss schmeckte dunkel, nach Tränen, Nordsee und dem Lachs vom kalten Buffet. Er erschütterte den Boden auf dem ich stand, und ich würde ihn nicht vergessen. Dann war Clemens fort, winkte unbekümmert noch kurz durchs Fenster ehe der Bahnhof ihn verschluckte.
„Jula, die Oliven sind alle!“ rief Benno und winkte mich Richtung Küche.
Mechanisch öffnete ich Gläser, füllte Schälchen, bediente.
Nach Mitternacht gingen die letzten Gäste. Wir räumten noch auf, wuschen ab, wischten, und dabei bat ich Benno um drei Tage Urlaub. In meiner winzigen Wohnung angekommen, rief ich Sina an. Sie gehört zu den Freundinnen, die man nachts um halb zwei anrufen kann, ohne Fragen gestellt zu bekommen. „Wir fahren nach Dänemark, zelten“, erklärte ich. „Okay“, sagte sie, „wann?“ Sie ist selbständige Fotografin, eine Motiv-Safari kommt ihr immer gelegen. Und niemals würde sie es für verrückt halten, im Oktober an einem nördlichen Meer zu campen.
Ich war auf der Flucht, vor Clemens und der Stadt, die nie schlief und in der man sich nicht denken hören kann. Es war aber gleizeitig ein Flucht nach vorn, hin zu etwas. Ich wusste nur noch nicht, zu was.
Wir fuhren die nächste Nacht hindurch. Gegen Morgen hielten wir auf einem kleinen Seitenweg an der Küste, dösten bis die Sonne grandios über dem Meer aufging. Im Radio lief Vangelis und an welkenden Grashalmen hing funkelnder Frost. Ich hätte heulen können vor Ergriffenheit bei dem Anblick, wie immer. Außer Sina versteht das keiner. Sie hockte schon mit der Kamera draußen, als ich aufwachte, während ihr Hund sich an der Mole erleichterte. Ich habe vergessen, wie er hieß. Ich betrachte Hunde mit demselben Respekt und der natürlichen Distanz wie Ameisen, Spatzen, Seehunde und alle anderen Wesen, die sich mit uns als theoretisch gleichberechtigte Gefährten auf dem Planeten herumtreiben. Sina hingegen teilt mit ihren Hunden das Bett, nennt sie Putzi oder Liebling und liest ihnen Artikel aus der Zeitung vor. Deswegen hatten wir auch zwei Zelte mit, eines für Sina und den Hund und eines für mich.
Viele Campingplätze hatten um die Jahreszeit geschlossen, aber wir fanden einen kleinen, weit abgelegenen, auf dem wir vor Jahren schon gewesen waren. Bald klebten unsere beiden kleinen Zeltkuppeln wie Schmetterlingspuppen in einem Dünental. Wir wanderten stundenlang am Strand entlang, den wir für uns alleine hatten, sammelten Kieselsteine, zählten die Möwenarten, während der Hund mit Seetang spielte. Der Herbstwind zerrte an uns, wehte Sina fast in einen Fluttümpel. Unsere Proviantschokolade wurde durch das Papier hindurch so sandig, dass wir gezwungen waren sie mit dem Taschenmesser zu schälen ehe wir sie aßen. Es war herrlich. Jeder Gedanke an Clemens wurde von den Böen sofort über das Wasser gejagt und vom fröhlich brausenden Schaum verschluckt. Abends wärmten wir Ravioli über dem verbeulten Campingkocher, erzählten uns Geschichten und krochen schließlich hochzufrieden in die Zelte. Mein Schlafsack wurde schnell behaglich warm. Die kleine Laterne reichte gut aus, um noch eine Weile zu schmökern, doch statt zu lesen, lauschte ich auf die Stille unter dem Wind, die ich zuhause so sehr vermisste. Ja, selbst den Wind hört man dort nicht, nur Stadtlärm: diese in eine kilometerbreite Schüssel aus Steinen und Zement gekippte breiige Suppe aus Autogebrumm, Industriegeräuschen, Sirenen, Gesprächs- und Musikfetzen, von der ein Gestank aus Gullys, Großküchen und Mülltonnen aufsteigt als wäre sie längst schon angebrannt und mittlerweile halb verwest. Er klebt sich in die Lunge wie Kaugummi. Warum nur war ich dort eigentlich zuhause, ausgerechnet ich?
Weil ich da geboren war, weil mein Leben dort irgendwie nie aufgehört hatte zu beginnen, und weil Clemens in dieser Stadt lebte. Weil es eine besondere Herausforderung war, gerade dort in den künstlich hellen, verqualmten Nächten überhaupt einen Stern zu entdecken. Weil Berlin wie ein Rausch war, nicht meiner zwar, aber mitreißend. Weil wir Ideale hatten – die Hausbesetzerzeit war fast schon vorüber, aber nicht ganz. Wir gründeten die WG, den alternativen Kinderladen, das Künstlercafè. Ich mischte überall mit, wurde gebraucht, spielte eine Zeitlang mit dem Gedanken, das Astronomiestudium zu schmeißen und eine Töpferwerkstatt zu eröffnen – aber an der Uni war Clemens, und so machte ich mein Diplom zu Ende. Doch es zog mich immer wieder hinaus ins Grüne; mit Clemens fuhr ich als Assistentin zu Seminaren am Wannsee, picknickte an der Havelchaussee und einmal krochen wir im Frühling abends unter dem Zaun hindurch in den Botanischen Garten, der schon geschlossen hatte und rezitierten in der Dämmerung auf den weitläufigen Krokushügeln Gedichte. Ein Stadtkind war ich trotz allem nie und träumte von einer Arbeit, die man auf Wiesen verrichten kann oder von einem Leben an der See.
Sina war die erste gewesen, die in eine bessere Gegend gezogen war, sich selbständig gemacht und ihr Fotoatelier eröffnet hatte. Auch andere waren gegangen. Nur Benno, ein, zwei andere und ich waren noch da und ein paar junge Leute, die ich kaum kannte. Ich trat seit Jahren auf der Stelle und hatte es nicht wahrhaben wollen. Clemens’ Kuss hatte mich aus meiner Lethargie gerissen und auf einmal kam mir alles flüchtig und substanzlos vor, eine Handvoll krümeliger Sand nur.
Plötzlich schmeckte ich Tränen, Meer – und Lachs. Ich schimpfte verhalten vor mich hin, befreite mich aus meinem Schlafsack, zog die Windjacke an und stieg in meine kalten sandigen Schuhe, die draußen vor dem Zelt standen. Aus Sinas Zelt drang vertrautes Schnarchen. Wenn Sina schlief, schlief sie. Aber der Hund kratzte vernehmlich an der Fliegengaze. Ich zog leise den Reißverschluss auf. Eigentlich hatte ich allein sein wollen, aber wenn der Hund ebenso unruhig war wie ich, hatte er wohl das gleiche Recht auf Wind um die Nase. Mit etwas Abstand zwischen uns erklommen wir den Deich, jeder in seine eigenen Gedanken gehüllt. Der Wind zog und zerrte an uns, aber er war ablandig, und hinter dem Deich war wie abgerissen alles ruhig. Auch die Wellen waren nur noch Falten auf dem Ozean als runzele die Erde leicht irritiert von unseren nächtlichen Schritten im Schlaf die Stirn.
Die jagenden Wolken vom Nachmittag waren mit der Sonne verschwunden. Am Himmel hingen alle Sternbilder versammelt, die in einen Herbsthimmel gehören. Ich warf mich rücklings in den Sand wie früher wenn wir Engel in den Schnee malten und benannte sie. Hier war das Land so flach, dass sich keine Himmelsrichtung hinter Gebäuden oder Hügeln verstecken konnte. Perseus und Fuhrmann, kleiner und großer Bär; der Schwan war im Westen gerade noch zu sehen bevor er für die nächsten Monate verschwand, während der Orion, einer meiner besonderen Winterfreunde, im Osten gerade über dem Horizont auftauchte. Über allem thronte die Kassiopeia fast im Zenit. Und mit ihr die Erinnerung an die Nächte mit Clemens am Teleskop.
Sterne werden für mich nie Messdaten sein, keine Größen der Astrometrie. Ich mag ihre Namen, ich reise gern mit Zeigefinger, Neugier und Phantasie über Sternkarten, aber letztendlich zählt für mich nur ihr Anblick in einer möglichst kalten, klaren Nacht. Sie sind für mich leuchtende Noten auf dem schwarzen Papier des Alls, hingeworfen von der ewigen Euphorie des Urknalls, Noten einer stummen gewaltigen Musik. Gegenüber der Großartigkeit dieser Musik werden das Meer und die Menschen gleichermaßen bedeutungslos – und doch sind wir Teil davon: ein zitternder, verwehter Ton irgendwo in der zweiten oder dritten Stimme.
Vor zweiundzwanzig Jahren hatte ich einmal für einen flüchtigen, demütigen Augenblick das Gefühl, genau diesen Ton getroffen zu haben, als Clemens und ich auf die Planeten warteten und auf den unwahrscheinlichen Fall, dass es in einer Juninacht in der Großstadt richtig dunkel würde. Ich spielte ihm auf meiner geliebten Piccolo-Flöte ein Stück von Telemann vor und auf einmal glaubte ich, ihn zu spüren, den einen Klang, der vom Himmel bis in die Erde reichte und auf dem mein Fühlen glückselig entlang fuhr wie auf einer unsichtbar gespannten Gitarrensaite.
Jetzt, viele Jahre später an diesem Herbstabend an einer gottverlassenen Küste Dänemarks hörte ich statt dessen oben im fernen Dunkel Wildgänse auf ihrem Zug nach Süden rufen. Sie brauchten kein Licht, orientierten sich an den Magnetfeldern, wussten immer genau, wonach sie sich richten mussten. Beneidenswert. Ich fragte mich, wie mein Magnetfeld aussah. Offenbar hieß es Clemens. Bis jetzt.
Der Hund buddelte ein Stück entfernt schnaubend an einem Kaninchenloch herum. Er schien genau das zu tun, was ihm in diesem Moment Freude machte. Ich sprang auf, zog die Schuhe aus und lief dorthin, wo der Sand feucht und fest war von den hohen Wellen des Nachmittags. Er ließ sich bestens auftürmen und formen, verschieben und festklopfen. Mit einer flachen Muschelschale schnitzte ich daran herum und vergaß mich und die Zeit völlig, spürte nur noch, wie die Form sich unter meinen Händen veränderte, wuchs, rundete. Im Grunde hatte ich das Töpfern nie ernst genommen, es war eine Tätigkeit am Rande gewesen, bei der ich völlig aus mir selbst fliehen konnte, für eine paar Stunden aufhörte zu sein sondern nur in der Gestalt unterwegs war, die ich zu erschaffen versuchte. Auch das eine Art Rausch. Meine Werke können so schlecht nicht gewesen sein denn sie verkauften sich sogar; man bestellte Krippenfiguren bei mir und auch Portraits. Aber seit Jana vor einigen Jahren mitsamt ihrem Brennofen aus dem Kiez fortgezogen war hatte ich keinen Ton mehr in der Hand gehabt. Ich hatte ganz vergessen, was für ein Höhenflug es war, etwas so Erdiges, Greifbares zu schaffen, etwas, das wog. Etwas, das blieb.
Oder auch nicht – wenn es aus Sand war.
Der Mond war längst aufgegangen, überstrahlte frech ein paar der Sterne und warf meinen Schatten lang verzerrt über den Sand. Der vierbeinige des Hundes wirkte noch grotesker. Er kam, meine vergängliche Skulptur kritisch zu untersuchen, nieste ohne zu zerstören und machte sich wieder auf seine eigenen Wege. Am Rande des flüsternden Meeresdunkels blickte ein überdimensionales Gesicht in den Himmel als gehöre ihm die ganze Milchstraße. Clemens. Ich kannte doch jede seiner Denk- und Lachfalten, auch die kleine Müdigkeit, die sich hier und da in den Winkeln festgesetzt hatte, die beweglichen Schatten. Ihn zu portraitieren war keine Kunst, auch nicht mit Sand, gerade nicht mit Sand, der genauso im ewigen Fluss war wie er.
Mitternacht war still verstrichen, der noch ferne Morgen schob als Vorboten aus Osten den Wind vor sich her, der wieder Fahrt aufnahm und seinerseits die Wellen auftürmte wie ich soeben noch den Sand. Sie züngelten in die Bucht, ihre Schaumkronen fingen das Mondlicht, flammten hell auf den Strand und kosteten wie die Zeit an dem Gesicht im Sand. Ich stand daneben und sah wie es krümelte, fiel, mit der Flut ins Ganze floss und sich ebenso löste wie etwas in mir. In der Ferne kämpfte der Hund am Flutsaum mit bizarren Drachen aus Tang und triumphierte glücklich über seinen Sieg oder das, was er dafür hielt. Offenbar hatten wir beide Ähnliches mit dieser Nacht vorgehabt.
Der Strand lag glatt und unschuldig, der Mond ging und die Sterne kehrten unversehrt zurück. Sie gehörten Clemens nicht mehr als sie mir oder dem Hund gehörten. Ich konnte sie jederzeit auch ohne ihn schauen, ihr Klang war überall hier in der wunderbar einsamen Weite. Leicht fühlte ich mich, tobte mit dem Hund in der Gischt. Wir spritzten silberglänzende Tropfen als Gruß Richtung Kassiopeia. Orion war unser strahlender Zeuge am Horizont. Ich spürte Feuchtigkeit auf meinem Gesicht, schmeckte Tränen, Nordsee und – Hering. Hering und Krabben sollten fortan genügen; ich brauchte keinen Lachs.
Diese Reise war keine Flucht gewesen, war überhaupt keine Reise, sondern eine Heimkehr in meine Zukunft. Clemens’ überraschender Kuss hatte mich befreit, hatte meine Sehnsucht nicht nach ihm geweckt sondern nach dem, was ich eigentlich war: nach den Träumen, die ich in der Zeit verschlampt hatte. Ich erkannte sie wieder, es waren allein meine.
Der Morgen schlich sich über das Meer. In meinem Übermut baute ich noch eine Möwe auf den Sand, eine stolze, aufrechte, die gerade die Flügel leicht anhob zu einem Flug Richtung Osten, wo das erste Licht Orion verwischte.
Sina schnarchte immer noch, als ich den nassen Hund in ihr Zelt ließ.
Der Winter war nicht lang in diesem Jahr. Ich nutzte ihn, um ein Geschäftskonzept für eine Töpferei zu entwickeln und mit Glasuren zu experimentieren. Der Frühling fing gerade erst an, als ich die Stadt für immer verließ, um an die Nordseeküste zu ziehen, dort, wo ich den stummen Klang der Sterne in Formen fassen würde, denen ein bestimmter Glanz eigen war.
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