Heute war der große Tag, an dem wir den Weihnachtsbaum gekauft haben. Für uns hat das jährlich eine ganz besondere Bedeutung: dass Peter es immer noch schafft, den Weihnachtsbaum nach Hause zu bringen.
Heute war eigentlich alles gegen uns. Der Elektrorollstuhl ist seit Wochen nicht in Ordnung. Etwas stimmt mit der Elektronik nicht, immer wieder fällt sie teilweise aus und dann geht gar nichts mehr. Aber da keine Werkstatt den Fehler findet, müssen wir damit leben. Außerdem sind unsere gewohnten Weihnachtsbaumhändler um die Ecke, die es gab seit ich denken kann, dieses Jahr nicht erschienen. Wir mussten also zum weiter weg gelegenen Baumarkt. Der aber hat eine sehr lange, extrem steile Einfahrt. Der Rolli kann das gerade noch bewältigen. Darum sind wir auch heute gefahren, trotz Regens und Kälte, denn wenn der angesagte Schneematsch erst kommt, geht das überhaupt nicht mehr. Der Regen ist allerdings auch nicht gut für den Rolli, und die Kälte nicht für Peter – die wenigen halb funktionstüchtigen Muskeln, die er noch hat, werden bei dieser Temperatur so steif, dass er kaum noch lenken kann.
Dort angekommen, stellten wir fest, dass in dem großen Baumarkt nur eine ganz kleine Ecke für den Tannenbaumverkauf gedacht war. Ohne die vom Weihnachtsbaumverkäufer gewohnte nette Bedienung und Beratung mit Zollstock. Die wenigen Bäume, die da lieblos hingeworfen waren, teils verpackt und sehr zerdrückt, sahen aus wie die Wirtschaftskrise persönlich – unten hungrig und oben herum sehr nackt.
Aber auf meinen persönlichen Weihnachts-Mann kann ich mich verlassen. Der fuhr ein paarmal im Kreis, nahm die armseligen Gewächse genau in Augenschein und sagte dann: „Der da hinten, der dritte von links unter den fünf krummen – der ist es!“
Ich zog ihn am Wipfel heraus – der ziemlich schief war, schüttelte, und wir stellten fest, dass das tatsächlich der einzig passable unter allen war. Nicht nur das, er hatte etwas ausgesprochen Individuelles und war sogar unten herum so schlank, dass er ins Wohnzimmer passt und Peter trotzdem noch vorbeifahren kann.
Wer braucht schon einen perfekten Baum – gerade wir doch nicht! Bei uns darf alles rein, was irgendwie ein bisschen schief, krumm oder anders ist. Mit diesem haben wir uns sofort verstanden.
Ich schob den Baum also durch den Trichter mit dem Netz – hatte ich auch noch nie gemacht, ging aber ganz leicht – und fand keine Schere, mit der man das Netzt hätte abschneiden können. Aber wozu waren wir in einem Baumarkt. Ich habe mir die teuerste Baumschere geschnappt und damit die Nylonfäden durchgesägt. Aber zurückgelegt habe ich sie nicht sondern für die anderen Kunden liegen lassen. Selber schuld, wenn weit und breit keine Bedienung da ist.
Nun brauchten wir nur noch Peters Hand wenigstens etwas aufwärmen und richtig an den Fahrhebel legen, den Baum hinten auf seinen Gepäckträger stellen, ich stützte die Spitze, und ab ging es, zur Kasse und dann die steile Einfahrt wieder rauf. Die Batterie vom Rolli ist auch nicht mehr so fit, schon gar nicht bei Kälte, aber sie hat es so gerade noch geschafft. Übrigens haben wir noch nie einen so billigen Baum bekommen. Da sie keiner ausgemessen hat, hatten sie einen Einheitspreis. „Der ist halt dies Jahr etwas kleiner, macht doch nichts“, meinte Peter. Nein – das macht wahrlich nichts! Hauptsache, meinem Schatz geht es so gut, dass solche Aktionen noch möglich sind. Alles andere ist mir sowas von egal – da kann der Baum meinetwegen auch dreißig Zentimeter hoch sein.
Wir sind auch bis nach Hause gekommen, zur Freude der Autofahrer über drei Ampeln hinweg. Es wirkt immer ein wenig wie eine Prozession.
Auf der Terrasse haben wir ihn wieder aus dem Netz befreit und erstmal an den Zaun gelehnt, wo wir ihn durchs Fenster sehen und uns jeden Tag daran freuen können bis wir ihn hereinholen.
Dann habe ich ihn ausgemessen. Und, was soll ich sagen? Wer meine Geschichte „Der Rollbaum“ kennt, wird nicht überrascht sein.
Der Baum ist ganz genau zwei Meter vierzig hoch. Wenn man sich die schiefe Spitze gerade denkt. Aber es gibt nichts, was wir besser können als das.
Auf der Terrasse, auf der er jetzt steht, blühen über dem Torbogen immer noch die Rosen unverzagt vor sich hin, obwohl wir wiederholt Frost und Schnee hatten. Ich werte das mal als ein sehr gutes Zeichen für unsere Liebe.
Aus meiner Geschichte „Der Rollbaum“ in „Der Weihnachtswind“
(eine Geschichte, die sich wegen ihrer Kürze sehr gut zum Vorlesen eignet).
„Wenn im Dezember ein klarer Tag kommt, an dem die Welt winterhimmelblau leuchtet, dann sehen die Nachbarn in der Kranichstraße öfter aus dem Fenster als sonst. Sie wissen, dass an einem solchen Tag Johannes seine Weihnachtsmannmütze aufsetzt, seine Frau ruft und mit seinem Rollstuhl losfährt, um den Weihnachtsbaum zu holen.
Eine Krankheit hat Johannes die Schritte gestohlen, obwohl er noch jung ist. Aber zu seinem Weihnachtsbaum kommt er trotzdem. Dieser Baum soll mindestens so groß sein wie Johannes, wenn er aufrecht stünde. Und Johannes ist kein kleiner Mann. Innen ist er sogar noch größer. Vielleicht wird der Baum deswegen jedes Jahr ein Stückchen höher.
Der Elektromotor vom Rollstuhl brummt, als hätte sich eine Hummel aus dem Sommer verirrt, und unter den Reifen knirscht der Schnee. An den Bordsteinkanten muss Johannes vorsichtig sein und rückwärts fahren, sonst kippt der Stuhl um. Manchmal muss er auch Umwege fahren. Aber egal, wie lang es dauert, Johannes kommt an. Der Baumverkäufer freut sich schon, wenn er ihn von weitem sieht.
Johannes fährt auf den Platz voller Bäume und dreht sich ein paar Mal schweigend im Kreis. „Der da“, sagt er dann und zeigt auf einen, der ganz weit hinter den anderen am Zaun lehnt.
Der Verkäufer zieht den Baum heraus. „Stimmt“, sagt er anerkennend, „das ist der Schönste. Aber ist der nicht zu groß?“
„Der ist zwei Meter vierzig“, sagt Johannes, „der passt genau!“
„Der ist mindestens zwei achtzig“, sagt der Verkäufer und greift den Zollstock aus der Tasche. Dann schüttelt er den Kopf, denn der Baum ist auf den Zentimeter genau zwei Meter vierzig hoch. Johannes strahlt.
„Wie kommt der Baum jetzt nach Hause?“ fragt der Verkäufer, obwohl er die Antwort kennt. Er hört sie so gerne.
„Das macht mein Mann“, sagt Johannes’ Frau stolz.“
Wer wissen will, wie die Geschichte weitergeht, findet sie hier: